Patrick Hertweck: MAGGIE UND DIE STADT DER DIEBE

Maggie und die Stadt der Diebe

11. November 2015
New York, 1870: Die zehnjährige Maggie irrt durch Manhattan, auf der Flucht vor ihren Verfolgern. Nur knapp ist sie den Männern entkommen, die sie aus dem Waisenhaus entführt haben. Bei einer Bande junger Diebe findet das mutige Mädchen mit dem rabenschwarzen Haar Unterschlupf.

(...) Maggie blieb an der Steintreppe stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Straßenkinder glotzten sie mit offenen Mündern an, was Maggie dazu veranlasste, an sich hinunterzusehen. Sie konnte ihnen ihr Glotzen nicht verdenken. Ihr für diese Gegend völlig unpassendes Kleid, das mit Blumen bestickt und mit Rüschen gesäumt war, war in einem erbärmlichen Zustand. Der Stoff war an einigen Stellen so zerfetzt, als hätte sie eine Auseinandersetzung mit einer Raubkatze hinter sich. Hinzu kam, dass nicht nur das Kleidungsstück, sondern auch ihre Arme und Beine über und über mit Schlamm beschmiert waren. Und ihre Füße steckten seit dem Verlust ihrer Stiefel in Socken, die sich in krustige Klumpen verwandelt hatten.

Maggie strich sich ein paar verirrte Haarsträhnen aus dem Gesicht und nahm die Kinder genauer in Augenschein. Sie waren noch verwahrloster und schmutziger als die anderen Menschen an diesem Ort. Trotzdem fühlte sich Maggie nicht mehr ganz so verloren. Im Vergleich zu den Erwachsenen mit ihren apathischen Gesichtern wirkte dieser bunte Haufen lebendiger und weniger abweisend. Sie waren Teil einer Gemeinschaft. Das spürte sie auf der Stelle. 

Maggie betrachtete die vier mit erwachtem Interesse. Direkt vor ihr hockte ein schlaksiger Jugendlicher mit karottenroten Haaren und stechend blauen Augen, die sie durchdringend ansahen. Hinter dem Rotschopf saß ein Mädchen von vielleicht zehn Jahren, das geistesabwesend den Bauch eines rauhaarigen Köters streichelte. Es sah fremdartig und – ungeachtet der schmutzigen Wangen und verfilzten Strähnen – einfach bezaubernd aus. Der Junge eine Stufe über ihr war vielleicht zwei Jahre älter als das Mädchen. Er war kräftig, sein Haar kurz geschoren, sein Gesicht rund, gutmütig und so schwarz wie die Nacht.

Rechts am Treppenrand lümmelte ein flachsblonder Bursche herum. Er mochte in etwa so alt wie das Mädchen sein. Seine Miene wirkte durchtrieben. Passenderweise war er der Erste, der aufstand und die Stufen runterkam. Maggie nahm irritiert zur Kenntnis, dass er knielange Lederhosen trug. Am Fuß der Treppe stellte er sich breitbeinig hin und schob die Daumen unter die Hosenträger.

„Seht mal her!“, rief er seinen Kumpanen zu. „Wir ham Besuch von ’ner Vogelscheuche.“ Er gackerte los wie eine verrückt gewordene Henne und schlug sich vergnügt auf die Schenkel.

Maggie bemerkte, dass die anderen nicht in sein Lachen einstimmten, und sie war heilfroh darüber. Sie wartete geduldig, bis der Junge sich wieder beruhigt und die Lachtränen aus den Augen gewischt hatte. Dann rückte sie ihm so dicht auf die Pelle, dass gerade mal ein Blatt Papier zwischen beide gepasst hätte. Sie konnte es auf den Tod nicht aus­stehen, wenn man auf ihre Kosten Witze riss. Schon gar nicht, wenn ihr der Magen in den Kniekehlen hing.

Herablassend blickte sie auf den Bengel in der speckigen Hose runter, denn sie war ein Stück größer als er. „Noch ein Wort“, fauchte sie, „und du landest bei deinen Artgenossen in der Gülle.“ 

Der Junge wurde hochrot im Gesicht und neben den beiden hob ein Jauchzen und Händeklatschen an. Aus den Augenwinkeln sah Maggie, wie sich der schwarze Junge vor Lachen bog. Das Mädchen beobachtete das Geschehen weiterhin mit großen Augen. Der Rothaarige aber war aufgestanden und neben sie getreten. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und zeigte auf einen rußigen Kessel.

„Setz dich zu uns. Wir haben noch ein paar Kartoffeln übrig.“

Maggie fühlte unendliche Dankbarkeit in sich aufsteigen. Der Hunger, der wie eine blutrünstige Bestie an ihrem Magen zerrte, ließ sie ihre guten Manieren vergessen. Schon saß sie neben dem Kübel und schlang gierig eine Kartoffel runter. Dass die vier sie erneut anstarrten, störte sie kein bisschen. Nachdem sie drei riesige Knollen verdrückt und anschließend mit einer Schöpfkelle salziges Kochwasser hinterhergespült hatte, sank sie wie eine gestopfte Weihnachtsgans zurück. Um sie herum herrschte eine Weile anerkennendes Schweigen.

„Wie heißt du?“, fragte der rothaarige Jugendliche. 

„Margaret“, antwortete Maggie zu­geknöpft. Ihr wurde plötzlich bewusst, dass sie keine Geschichte parat hatte, die sie den Straßenkindern auftischen konnte. Sie wollte ihnen keinesfalls erzählen, wie sie hierhergeraten war. 

„Wo kommst du her?“, fragte der schwarze Junge auch schon.

„Das ist eine lange Geschichte.“ Maggie wich den fragenden Blicken aus.

Keiner sagte etwas. Die Straßenkinder warteten auf eine Erklärung.

„Und wer seid ihr?“, fragte Maggie, um von sich abzulenken.

 (...)