Cecelia Ahern: DER GLASMURMELSAMMLER

Der unbekannte Vater

19. November 2015
Sabrinas Vater Fergus hat einen Schlaganfall erlitten. In den Kisten mit persönlichen Dingen, die ihm ins Pflegeheim geschickt werden, findet die Tochter eine Glasmurmelsammlung. Hunderte Murmeln, sorgfältig verpackt und inventarisiert – eine Leidenschaft, von der der Vater Sabrina nie erzählt hatte. Doch die wertvollsten Stücke fehlen. Nun hofft sie, dass Fergus’ Anwalt, bei dem die Kisten standen, die Sache aufklären kann. Eine Leseprobe aus Cecelia Aherns Roman "Der Glasmurmelsammler":

Meine Mission macht mich echt nervös. Ich ziehe den Plastikordner mit Dads Inventarliste aus meiner Tasche und gehe in Gedanken noch einmal durch, was ich fragen will. Wenn Mickey Flanagan die Murmeln an sich genommen hat, wird er das garantiert nicht sofort zugeben, vielleicht sogar überhaupt nicht, aber ich hoffe, dass ihm durch mein persönliches Erscheinen wenigstens das Gewissen schlägt. Ich habe mir alle möglichen Szenarien und jede mögliche Antwort von Mickey vorgestellt: ‚Ich musste die Murmeln verkaufen, weil ich seit Monaten kein Geld mehr von ihm gesehen habe.‘ Oder: ‚Erwarten Sie vielleicht, dass ich umsonst arbeite? Natürlich habe ich sie verkauft, wir hatten eine Abmachung, schauen Sie sich ruhig den Vertrag an, den wir aufgesetzt haben, er bezahlt mich mit den Murmeln.‘ Alles habe ich mir überlegt, aber meine Reaktion ist jedes Mal dieselbe. Ich will die Murmeln zurückhaben.

„Schön, dass Sie hier sind, Sabrina. Wie geht es Ihrem Vater?“, fragt er etwas besorgt.

„Wie es ihm geht?“, frage ich zurück und spüre, wie meine Beine anfangen zu zittern. Genaugenommen zittere ich am ganzen Leib, sogar meine Zunge. Meine Lippen fangen an zu zucken, was mich irritiert, und ich werde noch frustrierter und wütender. Ich will einfach nur klar und deutlich sagen, was ich zu sagen habe, ohne derartige Hindernisse! Auf gar keinen Fall darf ich mich von meinen Gefühlen beeinflussen lassen, aber die Gefühle sind blitzschnell in mir aufgestiegen, wahrscheinlich ausgelöst von der Frage „Wie geht es Ihrem Vater?“, und jetzt vernebeln sie mir den Verstand. Es erinnert mich an einen Traum, den ich öfter habe und in dem ich jemandem – es sind immer wieder andere Personen – etwas erklären will, was mir sehr am Herzen liegt, aber ich habe einen Kaugummi im Mund, und als ich ihn herausnehmen will, wird er immer länger, und je mehr ich daran ziehe, desto mehr quillt er auf und erstickt meine Worte.

Ich räuspere mich. „Manchmal erinnert er sich nicht mal mehr an gestern, aber dann erzählt er plötzlich mit präziser Genauigkeit eine Geschichte aus seiner Kindheit, so klar und lebendig, als wäre man mit ihm dort. Heute früh zum Beispiel hat er mir erzählt, wie er als Junge 1963 beim All-Ireland-Finale war, als Dublin Galway geschlagen hat. Er hat sich an jede Kleinigkeit erinnert und alles so detailliert erklärt, dass ich das Gefühl hatte, ich bin live dabei.“

„Nun, das war ja auch wirklich ein unvergesslicher Tag“, sagt Mickey freundlich und von Herzen.

„Aber er vergisst auch Dinge, die sehr wichtig für ihn sind – oder einmal waren.“ Ich räuspere mich erneut. Jetzt aber los, Sabrina, das ist eine gute Überleitung. „Wie zum Beispiel seine Murmeln. Bis heute habe ich nicht einmal gewusst, dass er welche besitzt. Aber anscheinend hatte er eine ganze Sammlung, Hunderte von Murmeln. Wenn nicht sogar Tausende. Manche davon sind wertvoll, aber auch ohne Rücksicht darauf müssen sie für ihn wichtig gewesen sein, denn warum sonst hätte er sich die Zeit und die Mühe gemacht.“ Mit zittrigen Fingern schiebe ich das Inventar über den Schreibtisch. Mickey nimmt es entgegen und geht die Seiten einzeln durch, blickt von den Blättern zu mir und wieder zurück, rauf und runter, immer wieder.

„Mickey“, setze ich noch einmal an. „Ich weiß nicht, wie ich mich höflich ausdrücken soll, aber diese Murmeln waren bis gestern bei Ihnen, und jetzt fehlt ein Teil der Sammlung. Wissen Sie, was mit Dads Murmeln passiert sein könnte?“

Er schaut mich überrascht an, dann erstarrt er, die Inventarliste fest in der Hand. „Mein Gott, nein!“

„Mickey, ich muss das wirklich wissen. Ich beschuldige Sie nicht, die Murmeln gestohlen zu haben, ich meine, es hätte ja eine Abmachung geben können, vielleicht mit Dad, durch die Sie die Erlaubnis hatten, sie an sich zu nehmen. Ich möchte sie nur finden, damit die Sammlung wieder vollständig ist.“

„Nein. Nein, ich habe die Murmeln nicht weggenommen, und es gab auch keine solche Abmachung.“ Er setzt sich auf und fährt mit fester Stimme fort: „Wie Sie wissen, habe ich diese Kisten nach dem Schlaganfall Ihres Vaters bei mir untergestellt, und wie Sie sagen, erinnert er sich nicht daran, dass er sie besitzt, also kann er mir auch keine Anweisungen gegeben haben, was ich mit ihnen tun soll, und ich hätte sie auch niemals von mir aus angerührt.“ Er klingt ehrlich, und ich höre seinen Ärger darüber, dass ich ihn beschuldigt habe. Aber er bleibt professionell. „Darauf geben ich Ihnen mein Wort, Sabrina.“

„Könnte denn jemand in Ihrem Haus Zugang zu den Kisten gehabt haben? Gab es vielleicht irgendwann einen Einbruch bei Ihnen?“ Ich versuche, den stillschweigenden Vorwurf an seine Familie ebenfalls abzufedern. „Die Murmeln, die fehlen, sind ausgerechnet die wertvollsten. Da könnte es ja sein, dass jemand die Liste durchgegangen ist und sie gezielt ausgewählt hat.“

Er zollt mir den Respekt, darüber nachzudenken, ehe er antwortet. „Ich kann Ihnen versichern, dass weder ich noch jemand aus meinem Haus dafür verantwortlich ist, dass diese Murmeln fehlen. Ich habe die Kisten nie geöffnet. Sie sind bei ihrer Ankunft versiegelt worden und hatten das gleiche Siegel noch, als sie wieder abgeschickt wurden. Das ganze letzte Jahr waren sie in der Garage, außer Sicht- und Reichweite.“

Ich glaube ihm. Aber an wen soll ich mich jetzt wenden?

Mickey gibt mir die Inventarliste zurück, ich starre darauf, auf Dads schöne Handschrift, und sehe wieder seine Entschuldigungsbriefchen vor mir: Sabrina konnte gestern leider nicht zur Schule kommen, weil sie zum Arzt musste. Ich sehe handgeschriebene Geburtstagskarten. Ich sehe von Dad gekritzelte Notizzettel überall im Haus.

Ich beiße mir auf die Lippen und habe wahrscheinlich immer noch knallrote Wangen vor Scham, obwohl ich mich so um Höflichkeit bemüht habe.

„Tja, da ist noch etwas. Ich möchte die Murmeln wiederfinden, und es würde mir sehr helfen zu erfahren, wer die Kisten damals zu Ihnen gebracht hat. Mum und ich haben alles eingepackt, was wir in Dads Wohnung gefunden haben, und wir haben die Murmelkisten beide noch nie gesehen.“

Mickey runzelt die Stirn und scheint ehrlich verwirrt. „Wie ist das möglich? Sie hatten keine Hilfe beim Packen? Umzugsleute oder Verwandte?“

Ich schüttle den Kopf. „Nein, es waren nur wir beide.“

Mickey denkt eine Weile nach, dann erwidert er: „Ich bin nicht sicher, ob Sie wissen, wie es dazu kam, dass ich die Sachen Ihres Vaters bei mir untergestellt habe.“

„Mum hat gesagt, Sie haben es netterweise angeboten. Ich hatte keinen Platz für die Sachen, und meine Mutter … na ja, sie möchte mit Dads Habseligkeiten verständlicherweise nichts mehr zu tun haben.“

„Es ist nur so – ich hab es nicht angeboten“, erklärt Mickey freundlich, und seine blauen Augen funkeln in seinem runden Gesicht. „Ihre Mutter war nicht ganz ehrlich mit Ihnen, aber ich will es jetzt sein, vor allem, weil Sie zu mir gekommen sind mit diesem … diesem Anliegen. Wofür ich übrigens vollstes Verständnis habe, denn schließlich waren die Kisten ja das ganze letzte Jahr in meiner Obhut.“

Ich rutsche verlegen auf meinem Stuhl herum, gar nicht mehr so entschlossen wie vorhin.

„Ihre Onkel, Fergus’ Brüder, waren nicht einverstanden damit, dass Gina die Sachen Ihres Vaters zu sich holt. Sie fanden, die Kisten wären bei ihr angesichts der Gefühle, die sie Fergus entgegenbringt, nicht sicher. Aber Gina war es suspekt, dass ausgerechnet Fergus’ Brüder die Kisten wollten, denn sie hatten ihrer Meinung nach überhaupt kein enges Verhältnis zu Fergus, und so kamen wir alle überein, sie einer dritten Person anzuvertrauen. Damit waren beide Parteien einverstanden, denn alle waren der Ansicht, ich sei neutral genug, um diese Aufgabe zu übernehmen. Ich tue so etwas normalerweise nicht, aber ich mag Fergus, deshalb habe ich mich bereit erklärt. Nun haben sich meine persönlichen Umstände leider verändert, und ich habe nicht mehr den Platz, seine Sachen unterzustellen.“

Ich nicke immer wieder, versuche, meine Verlegenheit hinunterzuschlucken, und bin überrascht, warum Mum mir nichts von alldem erzählt hat.