Karin Slaughter: PRETTY GIRLS

Blick in den Abgrund

20. November 2015
Ihre Bücher sind Stoff für schlaflose Nächte. Karin Slaughters neuer, psychologischer Thriller "Pretty Girls" erzählt von Missbrauch und Gewalt und der lebensgefährlichen Spurensuche zweier Schwestern.

Sie schreibt über Gewalt als Machtinstrument – und häufig sind die Opfer Frauen. Verstörend intensiv und bisweilen brutal deutlich sind ihre Bücher. So deutlich, dass schon Karin Slaughters Thrillerdebüt „Belladonna“ vor 14 Jahren in den USA eine Kontroverse über Gewalt in der Literatur auslöste. Manche glauben, sie habe ihren Namen bewusst gewählt, um den schrecklichen Verbrechen, über die sie schreibt, eine noch dramatischere Note zu geben.Doch „Slaughter“ ist kein Pseudonym, wie die 44-Jährige in jedem zweiten Interview gut gelaunt zu Protokoll gibt.

Überhaupt will der äußere Eindruck der in Atlanta lebenden Autorin so gar nicht zu den Mördern, Psychopathen und Serienkillern passen, mit denen sie sich in ihren Büchern umgibt: Klein, mit kurzen, blonden Haaren und intensiv blauen Augen, ist Karin Slaughter eine Frau, die ein eher unauffälliges Äußeres pflegt, gern lacht und die bei Lesungen und Interviews ihr Gegenüber mit schlagfertigem Humor und ihrer offenen Art für sich einnimmt. Am liebsten verbringt sie ihre Zeit allerdings zu Hause, trägt, wie sie in einem Fragebogen verriet, am liebsten Schlafanzughosen und pflegt so intensive Social-Media-Kontakte wie kaum eine andere Autorin. Auf Facebook postet sie, was sie gerade umtreibt und welches Rezept sie ausprobiert hat, empfiehlt lesenswerte Romane und lädt zur Freude der Fans immer wieder Fotos ihrer Katzen hoch. Und sie schreibt unermüdlich Bücher.

Die verschwundene Schwester
In ihrem neuesten Thriller mit dem Titel „Pretty Girls“ führt Slaughter ihre Leser erneut in atemberaubend düstere Abgründe. Es ist die Geschichte von Claire und Lydia, die 24 Jahre zuvor ihre Schwester Julia verloren haben. Die 19-Jährige kehrte nach einer Party nicht nach Hause zurück. Die halbherzig geführten Ermittlungen brachten kein Ergebnis, eine Leiche wurde nie gefunden. Der Vater zerbrach daran und nahm sich das Leben, die Mutter ließ das Zimmer der Tochter unberührt. Lydia, alleinerziehende Mutter und trockene Alkoholikerin, und Claire, verheiratet mit einem reichen Architekten, haben sich seit 18 Jahren nicht gesehen – seit Claire Lydia aus dem Haus geworfen hatte, als diese Claires Ehemann Paul der versuchten Vergewaltigung beschuldigte.

Nun ist Paul tot, erstochen bei einem Überfall vor Claires ­Augen. In Pauls Computer findet die junge Witwe unfassbar brutale Videos von vergewaltigten und gefolterten Frauen. Sie sucht den Kontakt zu Lydia, der sie die schockierenden Filme zeigt. Gemeinsam stoßen die Frauen auf weitere dunkle Geheimnisse, die Claire zeigen, wie wenig sie ihren Ehepartner offenbar kannte.
In „Pretty Girls“ geht Karin Slaughter neue Wege: kein Cop, der im Mittelpunkt steht, wie in ihren Will-Trent-Romanen, auch keine Gerichtsmedizinerin wie in Slaughters berühmter Thrillerserie um Dr. Sara Linton. Hier geht es um eine Familie und um die seelischen Verwüstungen, die Verbrechen bei Opfern und deren Angehörigen hinterlassen. „Ich habe mich mit den Folgen von erlittener Gewalt sehr gründlich beschäftigt, habe Studien gelesen und im Internet recherchiert“, sagt Karin Slaughter.

Und die Autorin, die einst eine Werbeagentur betrieb, stellt einmal mehr unter Beweis, warum sie zu Recht gern als „Thriller-Queen“ bezeichnet wird: Ihre Hauptpersonen sind ungemein vielschichtig und lebendig, virtuos verknüpft sie verschiedene Handlungsstränge miteinander und vermag es so, dem spannenden Plot immer wieder neue, überraschende Wendungen zu geben, die den Leser bis zum Schluss nicht loslassen. Es ist das Markenzeichen ihrer Romane, dass die Rädchen, die die Story zusammenhalten und vorantreiben, stets perfekt ineinandergreifen – es wundert einen nicht, dass sie gern Uhrmacherin geworden wäre, wie die Autorin in einem Interview erwähnte.

Zu ihrer Arbeit am Detail gehört jedoch auch ihre Art der Darstellung von Gewalt. Karin Slaughter will die Dinge beim Namen nennen, will nicht gnädig den Vorhang senken, um dem Leser diesen Teil der Wahrheit zu ersparen. Und die Wahrheit ist, dass sich Männer oft mit entsetzlicher Brutalität und krankhafter Fantasie an Frauen vergehen. Karin Slaughter gibt in ihren Thrillern eine Ahnung davon, doch die Realität, das betont sie immer wieder, ist noch viel schrecklicher als alles, was sie in ihren Romanen aufschreibt.