Irmgard Keun: KIND ALLER LÄNDER

Kleine Weltbürgerin

3. März 2016
Eine Wiederentdeckung: In ihrem hinreißenden Roman „Kind aller Länder“ blickt Irmgard Keun mit den Augen einer Zehnjährigen auf das Schicksal deutscher Emigranten in den 1930er Jahren. 

„Ein Pass ist ein kleines Heft mit Stempeln und der Beweis, dass man lebt. Wenn man den Pass verliert, ist man für die Welt gestorben.“ Die zehnjährige Kully, das Emigrantenkind aus dem Rheinland, bringt die Vorkriegswelt der Jahre 1936 bis 1938 mit entwaffnender Direktheit auf den Punkt.
Kindlich-naiv, doch erstaunlich abgeklärt zieht uns die Ich-Erzählerin ins rastlose Exilleben, das sie kreuz und quer durch Europa und über den Atlantik führt, in ein Land, wo die Limo­nade „wie braunes, flüssiges Mottenpulver“ schmeckt. Für Kully ist es ein Leben im Transitorischen: Während ihr von Geldnöten geplagter Vater, ein Schriftsteller, auf abenteuerlichen Wegen Bares herbeizuschaffen versucht, sind Mutter und Tochter zum Warten verdammt. Trauer und Melancholie liegt über all dem – doch Kully schaut wach und neugierig auf ihre Umgebung; nicht selten ist, was sie sieht, von umwerfender Komik.

Irmgard Keuns dritter Exilroman ist erstmals 1938 bei Querido in Amsterdam erschienen. Durch Egon Erwin Kisch lernte sie im Sommer 1936 in Ostende den Feuilletonisten und Romancier Joseph Roth kennen. Für anderthalb Jahre lebten, schrieben und tranken sie zusammen – unschwer erkennt man in Kullys Eltern das Schriftstellerpaar. Der biografische Subtext ist reizvoll, gewiss. Seine Kraft aber gewinnt der Roman durch Kully, die kleine Weltbürgerin, die kein Heimweh kennt. Eine sehr
heutige Heldin, die man so leicht nicht vergessen wird.