Elke Heidenreich: ALLES KEIN ZUFALL

"Aus Erinnern entsteht Erzählen"

3. März 2016
Erlebt, gehört, erfunden, notiert: Elke Heidenreich erzählt in ihrem Buch „Alles kein Zufall“ bezaubernde Geschichten von Glück und Unglück, Liebe und Streit, von Begegnungen und Trennungen, kurz: von den Momenten, die das Leben ausmachen.

„Alles kein Zufall“ heißt Ihr Buch. Wie viel ist Zufall im Leben?
Es gibt natürlich schon jede Menge Zufälle. Aber die wesentlichen Dinge, die uns geschehen, haben etwas mit unserem Charakter zu tun, damit, wie wir auf die Welt und die Menschen schauen. Das bestimmt, was uns geschieht. Daran glaube ich fest.

Was interessiert Sie als Autorin dieser Geschichten mehr – davon zu erzählen, wie etwas war, oder davon, wie es hätte gewesen sein können?
Beides! Wenn etwas interessant war, ist es aber trotzdem nie eins zu eins zu erzählen, ein bisschen Fantasie als Gewürz ist immer richtig. Und wie es hätte sein können – das ist natürlich einer der Hauptgründe für das Schreiben. Man fantasiert sich ein anderes mögliches Leben zusammen.

Es gibt Texte, in denen erzählen Sie über sich, in anderen über Freunde. Gibt es Dinge, die Sie nicht aufgeschrieben haben, weil es zu intim war?
Ja, natürlich gibt es ganz Intimes und Privates, das man nie verrät, außer man ist Karl Ove Knausgård – und wahrscheinlich nicht mal der. Meine Geschichten sind eine Mischung aus erlebt, gehört, erfunden, beobachtet, notiert. Es ist von allem etwas und nie „die ganze Wahrheit“. Literatur hat mit Wahrheit nicht viel am Hut, und letztlich ist das Buch, wie klein auch immer, Literatur, keine Biografie.

Bedeutet Schreiben für Sie auch ein Bewahren?
Ja, unbedingt. Ich schreibe seit meinem 15. Lebensjahr Tagebuch, und ich finde in den alten Notizen so vieles, was ich sonst längst vergessen hätte – Gesichter, Situationen, Stimmungen, Kleider. Das alles steigt plötzlich wieder hoch. Manchmal ist das schön und manchmal grässlich. Ob es grundsätzlich gut ist, sich so zu erinnern, das weiß ich nicht. Aber viel Verlorenes taucht wieder auf – nicht nur Gutes, natürlich. Und aus Erinnern entsteht dann Erzählen.

Der Leser begegnet in diesen Geschichten immer wieder einem Staunen über das Leben, über einzelne Biografien. Nimmt dieses Staunen im Alter zu?
Danke, dass Sie das mit dem Staunen sagen. Ich habe übers Staunen gar nicht nachgedacht, aber Sie haben recht: Man staunt, was alles in ganzer Bandbreite möglich ist. Das bleibt, glaube ich, bis zum letzten Atemzug so. Meine Mutter starb mit 91 Jahren, die blauen Augen weit aufgerissen, sie sah im Moment des Todes aus wie jemand, der staunt: Das soll es gewesen sein

Ist das Buch auch eine Feier der Marotten, Eigenheiten, des Andersseins?
Feier? Nein. Ich mag Marotten, wenn sie nicht zu sehr auf Kosten anderer gehen. Viele meiner Freunde haben Marotten, ich finde das sehr liebenswert und menschlich und ich erkenne sie doch daran unter allen heraus. Solange die Marotte nicht Macht über uns gewinnt, denke ich, ist sie Schutz und Ritual. Das fängt beim Talisman an und geht über den unvermeidlichen Tomatensaft im Flugzeug bis zu einem Pullover, den man seit 20 Jahren immer dann anzieht, wenn man Glück besonders braucht. Oder meine blauen Schuhe, die gibt es wirklich. Wenn ich die anziehe, geht alles gut!

Wie ist das Buch entstanden? Sind es Geschichten, die Sie während eines längeren Zeitraums notiert und jetzt zusammengetragen haben, oder sind sie eigens für das Buch geschrieben?
Beides. Es sind Erinnerungen, Notizen, Ideen zu längeren Geschichten, Spontanes, Altes, eine Sammlung, die immer mehr wuchs, bis ich dachte: Eigentlich ist das ein Buch. Als es fertig war, hatte ich schon wieder zehn neue Geschichten auf Zetteln herumliegen.

Philip Roth hat geschrieben: „Das Alter ist ein Massaker.“  In Ihren Geschichten scheint das anders: Alter bedeutet Zugewinn an Erfahrung, an Gelassenheit. Ist Ihnen der Roth-Satz eher fremd?
Der ganze Philip Roth ist mir im Laufe der Jahre fremd geworden, muss ich leider sagen. Und ein Massaker ist es nicht, wenn es auch Verwüstungen anrichtet, sichtbare und unsichtbare. Aber die Jugend war viel mehr ein Massaker, eine Schlacht, dieser Aufbruch ins Ungewisse mit so vielen Kämpfen und Narben und Irrtümern – nein, das Leben hat seinen Kreislauf, und man bleibt immer der Mensch, der man von Anfang an war. Ich war nie geduldig, ruhig, gelassen, ich werde es auch im Alter nicht. Nur etwas langsamer – aber nicht, weil mein Charakter sich ändert, sondern weil die körperliche Energie nachlässt.