Emmanuel Carrère: DAS REICH GOTTES

Rettender Glaube

18. April 2016
Mitreißend und undogmatisch sucht der französische Romancier und Drehbuchautor Emmanuel Carrère in „Das Reich Gottes“ nach den Quellen des christlichen Glaubens und entdeckt erstaunliche Parallelen zur Gegenwart.

Während überall von religiösen Fanatikern die Rede ist, hat Emmanuel Carrère ein erstaunliches und mitreißendes Buch über den christlichen Glauben geschrieben. Der 1957 geborene französische Schriftsteller und Drehbuchautor verbindet einen autobiografischen Essay mit einem historischen Roman, lässt den Apostel Paulus und den Evangelisten Lukas auftreten. Mit französischem Esprit vereint sein Buch Ernst, Gelehrsamkeit und Ironie – etwa wenn er Lukas „ein bisschen snobistisch“ nennt, weil der betont habe, der Sohn Gottes „entstamme mütterlicherseits auch einer sehr angesehenen Familie“.  

Immer wieder mischt sich Carrère in sein literarisches Schöpfungswerk ein, kommentiert seine Quellen und die Glaubwürdigkeit seines Erzählens. Wie in seiner Romanbiografie „Limonow“ gelingt es ihm damit, seine Leser in eine faszinierende Auseinandersetzung mit Themen zu verstricken, an die sie sich von selbst kaum herangewagt hätten.

Das beginnt damit, wie Carrère zunächst seine Mitarbeit am Plot einer TV-Serie beschreibt, in der es um die Rückkehr von Toten ging. Nicht um Zombies oder Vampire, sondern um Verstorbene, die wie Christus auferstanden sind. Wie würden die Menschen darauf reagieren? Jene Serie suchte eine praktische Antwort auf eine Frage, die sich Rationalisten angesichts gläubiger Christen häufig stellen: Wie können Menschen, „die ansonsten nicht verrückt sind“, an Dinge wie die Auferstehung Christi glauben?

„Was mache ich hier?“
Auch er selbst habe sich lange zwar für Theologie interessieren können, schreibt Carrère, „aber so, als handle es sich um einen speziellen Zweig der Fantasy-Literatur“. Doch während einer Schreibkrise, die auch seine Ehe bedrohte, erschien ihm die Religion als Rettung. Eine tiefgläubige Patentante und sein Freund Hervé hätten ihm vorgelebt, dass Religiosität mehr sein kann als der Glaube an selt­same Dinge: „Hervé gehört zu der Familie von Menschen, für die es nicht selbst­verständlich ist, auf der Welt zu sein“, schreibt Carrère. „Seit seiner Kindheit fragt er sich: Was mache ich hier? Und was ist dieses ,ich‘? Und was ist ,hier‘?“

Vom Glauben hat Carrère sich wieder abgewandt, doch die Notizen aus jener Zeit bildeten eine Grundlage seines Buchs, das neben dem Lukas-Evange­lium, den Paulus-Briefen, der Apostelgeschichte und diversen Bibelkommentaren auch die Werke von Ernest Renan her­anzieht. Dessen Buch „Das Leben Jesu“ hatte 1863 einen gewaltigen Skandal ausgelöst, weil der Historiker, Philologe und Orientalist es gewagt hatte, es auf ge­sicherte Fakten zurückzuführen.  Die Apostel, so zitiert ihn Carrère, glaubten „der göttlichen Eingebung folgen zu müssen und interpretierten ihre Träume, zufällige Vorkommnisse oder Widrigkeiten als lauter Weisungen des Heiligen Geistes“. Bei der Einfühlung in diese Welt aber haben Carrère auch seine Erfahrungen als Kampfsportschüler geholfen. So kommentiert er die Erfolge Paulus’ mit dem in Kampfkunstkreisen bekannten Spruch „Wenn der Schüler bereit ist, taucht plötzlich der Lehrer auf“. Das Reich Gottes tat sich auf, weil die Menschen bereit dafür waren. Bereit für eine radikale Umwertung aller Werte. Paulus verkündete auch die nahe Endzeit. Und das in einem Imperium, das sich auf dem Höhepunkt seiner Macht befand.

Hier zieht Carrère den großen Bogen vom Römischen Reich in die Gegenwart. Zumindest in seinem Milieu erlebe er, dass viele Menschen auf eine „diffuse, aber hartnäckige Weise“ überzeugt seien, „dass wir aus allen möglichen Gründen dabei sind, den Karren an die Wand zu fahren“. Die stoische Philosophie der Antike erscheint ihm wie die moderne ­Begeisterung für den Buddhismus als Religionsersatz für eine Welt, die „jedes kollektiven Ideals entbehrte“.

So erklärt sich der Erfolg des Christentums hier dadurch, dass die Welt zur Zeit seiner Ausbreitung nicht so anders, sondern dass sie unserer Welt so ähnlich war. Und so ist „Das Reich Gottes“ auch ein Buch übers Lesen, das dazu einlädt, durch die Vertiefung in das, was uns befremdlich erscheint, zu entdecken, was uns selbst in und um uns unbekannt war.