Viola Shipman: FÜR IMMER IN DEINEM HERZEN

Ein Sommer am Michigansee

14. Juni 2016
Großmutter Lolly, Tochter Arden und Enkelin Lauren – alle drei Frauen besitzen Armbänder mit Glücksanhängern, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Doch die Familie droht zu zerbrechen: Seit Jahren hat Lolly Tochter und Enkelin nicht mehr gesehen. Ein Überraschungsbesuch von Arden und Lauren am idyllischen Michigansee macht die Vergangenheit lebendig und zeigt den Frauen, was ihnen gefehlt hat: Familie, Liebe und Freude am Leben. Eine Leseprobe aus Viola Shipmans Roman "Für immer in deinem Herzen":

4. Juli 2013
Das Feuerwerk sprüht krachend über mir und reißt mich aus dieser Erinnerung.
Ich bin jetzt siebzig. Meine Mutter und mein Vater sind schon lange gestorben. Mein Mann ist tot, meine Tochter Arden ist erwachsen und lebt fünf Stunden entfernt in Chicago, meine Enkelin Lauren geht aufs College. Zu viele Jahre schon feiere ich meinen Geburtstag allein. Und dennoch, wenn ich hinauf in den Nachthimmel blicke, bin ich immer noch verzaubert von der schlichten Schönheit eines Sommerfeuerwerks, überwältigt von Erinnerungen.
Als ich den Kopf hebe, spüre ich, dass mir Tränen übers Gesicht laufen.
Meine Mutter mag die Hälfte meines Herzens mit sich genommen haben, aber ich durfte all ihre Anhänger behalten, und sie hatte recht: Das Bettelarmband erinnert mich unablässig an ihre Liebe zu mir.
Ich habe mir geschworen, die Geschichten unserer Familie mit Arden und Lauren zu teilen, denn niemand von uns stirbt je wirklich, solange wir unsere Geschichten an die, die wir lieben, weitergeben. Ich fing an, ihnen von unserer Familie zu erzählen, als sie noch klein waren, doch inzwischen sind sie so beschäftigt, und das Leben fliegt dahin, schnell wie ein flacher Stein über die Wasseroberfläche des Lost Land Lake.
Ich versuche, sie durch die Anhänger, die ich ihnen immer noch schicke, an unsere Geschichte und unsere Traditionen zu erinnern, aber meine Tochter hat unsere Vergangenheit und mich abgestreift, als wären wir eine Jacke, die sie nicht mehr tragen möchte. Und ich spüre ihre Abwesenheit schmerzlich, wie die Kälte des ersten Frosts im Oktober.
Während ich also dafür bete, dass sie nach Hause zurückkommen, setze ich die Tradition allein fort: Ich lese dem See immer noch das Gedicht meiner Mutter vor, jeden vierten Juli an meinem Geburtstag, während das Feuerwerk explodiert. Und unweigerlich fährt der Wind durch mein Bettelarmband – noch schwerer inzwischen sogar, als das meiner Mutter je war –, und ich schließe die Augen und lausche dem Klimpern der Anhänger.
Alles Gute zum Geburtstag, Lolly, höre ich meine Mutter sagen.

Mai 2014
Die Hauptstraße von Scoops, Michigan, sah aus wie ein zum Leben erwachtes Postkartenidyll. Die kleinen viktorianischen Ladenfronten der Restaurants, Cafés und Boutiquen lockten ihre Kunden mit üppigen Blumenkästen voller Petunien, Ringelblumen und Begonien vor den Fenstern.
„Ich hatte ganz vergessen, wie malerisch es hier ist“, stellte Lauren fest. „Es ist einfach so … süß, so wie auf Bildern von Norman Rockwell. Hey, sollten wir Grandma nicht anrufen und ihr Bescheid sagen, dass wir hier sind?“
„Überraschen wir sie lieber“, entgegnete Arden. Schnuppernd sog sie die Luft ein und roch den
süßen Duft von Karamell. „Ich habe so das Gefühl …“ Ardens Stimme verklang. Sie nahm ihre Tochter an der Hand und führte sie durch die schmalen, von Weißbirken, Zucker-Ahorn und hohen Kiefern überschatteten Straßen des Stadtzentrums. Entlang der Hauptstraße erstreckte sich ein Binnen­hafen, auf dessen schimmernden Wellen sich Boote und Kajakfahrer tummelten – und der über die letzte von Hand betriebene Kettenfähre der Vereinigten Staaten verfügte –, während man in der Ferne den Michigansee und seine aufragenden Dünen sehen konnte. Es war eine majestätische Kulisse.
Sie liefen durch die geschäftige kleine Stadtmitte, bis sie auf eine Menge Sommerfrischler trafen, die sich auf dem Gehweg vor Dolly’s Süßwarenladen drängten.
„O Mann! Die Fudgies hatte ich ja völlig vergessen“, stieß Arden hervor. Fudgies war der Spitzname der Einwohner Michigans für die Touristen, die in der Zeit vom Memorial Day Ende Mai bis zum Labor Day Anfang September die Ferienorte an der Küste überrannten. „Die sind wie Zombies. Man wird sie einfach nicht los. Und sie kommen jedes Jahr früher.“
„Mom, pssst!“ Lauren versetzte ihr einen Klaps auf den Arm und wies mit einem Nicken auf Dollys nostalgische rote Ladenfassade. „Du weißt doch, warum sie hier sind.“
„Stimmt.“ Arden trat näher und klopfte an das große Schaufenster, in das Dollys Logo eingraviert war. „Hallo, Mom“, sagte sie durch die Scheibe.
Lolly blickte von den Kupferkesseln hoch, als sie die Stimme ihrer Tochter hörte, und der verblüffte Ausdruck auf ihrem Gesicht wich heller Freude. Sie hüpfte begeistert auf und ab, bevor sie einer jungen Angestellten ihren mit Karamell-Fudge überzogenen Holzlöffel reichte und hinausrannte.
Lolly Lindsey war schon die Attraktion von Scoops, so lange Arden zurückdenken konnte. Sie stand bereits seit Jahrzehnten im großen Schaufenster von Dolly’s Süßwarenladen, eine prominente Persönlichkeit in dieser typisch amerikanischen Kleinstadt, auffällig wie die extravagante Mame in „Die tolle Tante“. Obwohl viele des Fudges wegen herbeiströmten, kamen die meisten wegen der Show. Lolly war ein regionales Kulturgut. Sie trug stets eine ihrer unzähligen altmodischen, bunt bedruckten Schürzen: rot mit bunten Eiswaffeln, weiß mit Blaubeeren oder Kirschen verziert, rosa mit tanzenden Cupcakes. Aber ihr Markenzeichen waren die Perücken: rot, pink, weiß; Pagenköpfe und Bienenkorb-Frisuren. Immer zur vollen Stunde gab Lolly eine Gesangs- und Tanzeinlage aus dem Musical „Hello, Dolly!“, um die Touristen zu unterhalten und in den Laden zu locken.
Arden und ihre Mutter unterschieden sich wie Tag und Nacht: Lolly war so extrovertiert wie Arden zugeknöpft. Aber auch wenn Arden sich oft für Lollys Theatralik schämte, war sie doch überglücklich, ihre Mutter zu sehen.
„Meine Mädchen! Was für eine Überraschung!“, rief Lolly aus und zog Arden überschwänglich in die Arme. „Was um alles in der Welt macht ihr denn hier?“ Dann umarmte sie Lauren und hüpfte erneut vor Freude. Lauren stimmte mit ein, und gemeinsam sprangen die beiden kreischend auf und ab, dass ihre Bettelarmbänder rasselten.
„Wir haben dich vermisst und wollten das Memorial-Day-Wochenende mit dir verbringen!“, antwortete Lauren atemlos. „Ich hab dich lieb, Grandma!“
Lolly hörte auf zu hüpfen und drückte ihre Enkelin an sich. „Ich hab dich auch lieb, mein Liebling“, flüsterte sie, bevor sie sich zu Arden wandte und deren Wangen mit Küssen übersäte. „Und dich hab ich auch lieb, mein Baby. Es ist schon viel zu lange her.“
„Ich weiß“, antwortete Arden. „Ich hab dich auch lieb, Mom.“
Mein Gott, ist sie alt geworden, schoss es Arden durch den Kopf, als Lolly das Gesicht ihrer Tochter in die Hände nahm, um sie anzusehen.
Selbst trotz der Perücke und all dem Make-up wirkte ihre Mutter so viel älter als beim letzten Mal, als sie sie gesehen hatte. Lollys leuchtend roter Lippenstift setzte sich in den tiefen Fältchen ab, die von ihren Lippen aus verliefen. Unter der dicken Grundierung waren immer noch dunkle Augenringe zu erkennen, und ihre Wangen wirkten hohl trotz des Rouges. Sogar die Augenfarbe ihrer Mutter – lange Zeit so blau wie die Hortensien, die sie so liebte – schien verblasst. Die Schürze und der Jogginganzug darunter konnten ihren schrumpfenden Körper und den sich rundenden Rücken nicht verbergen.
„Also, was bringt meine Mädchen so unangekündigt nach Michigan?“ Lauren und Arden sahen einander nur stumm an.