Peter Nichols: DIE SOMMER MIT LULU

Auf den Klippen von Cala Marsopa

14. Juni 2016
Peter Nicholsʼ „Die Sommer mit Lulu“ weckt ­Sehnsucht: nach Meer und Sonne und nach einem Mallorca fernab vom Massentourismus. Der Roman ist die perfekte Lektüre für den Urlaubskoffer.

Fast 60 Jahre sind sie sich erfolgreich aus dem Weg gegangen, obwohl sie im selben Dorf an der Ostküste Mallorcas leben: Lulu und Gerald waren vor langer Zeit kurz verheiratet, haben sich seit ihrer Scheidung 1949 so gut wie nie gesehen und treffen nun, beide inzwischen über 80 Jahre alt, in der Nähe von Lulus kleinem Hotel in Cala Marsopa aufeinander. Ohne Begrüßung beschimpft Lulu ihren Ex-Ehemann, ein Wort gibt das andere, Gerald packt Lulu am Arm, sie versucht ihn abzuschütteln, verliert das Gleichgewicht, krallt sich in sein Hemd – und beide stürzen die steilen Felsen hinunter ins Meer und ertrinken.

Dramatischer kann ein Roman kaum beginnen als Peter Nichols’ „Die Sommer mit Lulu“. Doch worum ging es bei dem tödlichen Handgemenge? Und weshalb hatte sich das Paar damals so hoffnungslos zerstritten? Fassungslos angesichts der Tragödie sind auch die rasch herbeigerufenen Kinder aus den zweiten Ehen der Toten: Lulus Sohns Luc und Geralds Tochter Aegina – und auch zwischen ihnen sind in der Vergangenheit offenbar Dinge vorgefallen, die bis in die Gegenwart wirken.

Nichols macht es spannend mit der Spurensuche, denn er erzählt rückwärts durch die Zeit: Kapitel für Kapitel führt er seine Leser auf den folgenden 500 Seiten zurück in die Vergangenheit bis ins Jahr 1948, als Gerald und Lulu ein Paar waren.

Betörendes Flair
Es ist eine fesselnde Geschichte, die nicht geizt mit Affären, Intrigen und tragischen Missverständnissen. Wie ein dunkler Schatten liegt die Vergangenheit über den Familien. Zugleich ist Nichols’ Roman voll von unbändiger Lebenslust, gelungenen Freundschaften, Liebe, Sex und Abenteuern. Die Lektüre berauscht: mit mediterranem Flair, Sonne, Wind und Wasser, traumhaft schönen Stränden, ockerfarbenen Klippen und knorrigen Kiefern, mit Kneipen, die günstigen Wein und frisch gefangenen Fisch servieren.
Das alte Mallorca, von dem „Die Sommer mit Lulu“ auch erzählt, ist Peter Nichols wohlbekannt. Anfang der 1960er Jahre kauften seine Eltern ein kleines Haus bei Cala Ratjada, wo die Familie viele Sommer verbrachte. Nichols erzählt aber auch davon, wie der Massentourismus die schönste aller Balearen-Inseln allmählich erobert, wie um Grundstücke geschachert wird, sich Bagger brutal durch Olivenhaine fressen – und wie der Tourismus den Mallorquinern Wohlstand bringt.
Epizentrum des Romans ist die Villa Los Roques, von allen nur „Die Klippen“ genannt. Lulus kleines Strand­hotel war schon Anziehungspunkt für Segler und Lebenskünstler, lange bevor Mallorca von Pauschalurlaubern und Partytouristen entdeckt wurde. Die Engländerin bezaubert die Gäste mit ihrem Humor, ihrer Lebensfreude und ihrem Charme. Doch dahinter verbirgt sich eine unbändige Energie und eine furchteinflößende Willensstärke, die so mancher zu spüren bekommt und der Luc sein Leben zu verdanken hat: Als Lulus Sohn Anfang der 1980er Jahre bei einem Segeltörn weit vor der Küste bei einem Unfall von allen unbemerkt über Bord geht, ist es seine Mutter, die sonst niemals ein Boot betritt, nun aber mit der festen Gewissheit hinausfährt, ihren Sohn im endlosen Meer zu finden.

Auf Odysseusʼ Spuren
Jahre zuvor trotzte Gerald den Gefahren des Meers: Nach seiner Entlassung aus der britischen Kriegsmarine hatte sich der exzellente Segler mit einer kleinen Yacht in die Ägäis aufgemacht, um die Irrfahrt des Odysseus von Troja nach Ithaka nachzufahren. Aus einer Artikelserie für eine Seglerzeitschrift wurde Anfang der 50er Jahre ein viel beachtetes Buch über seine Unternehmung.

Geralds Gedanke damals war, dass nicht das Erreichen des Ziels, sondern das, was sich unterwegs ereignet, von Bedeutung ist – und so gerät Odysseus’ wechselvolle Reise zu einer Art verborgenem Programm für Nichols’ Roman: Was am Anfang neben­sächlich scheint, bekommt im Laufe des Buchs einen Sinn. Wie in ­einem Puzzle fügen sich die Dinge zueinander, je weiter der Leser in die ­Vergangenheit vordringt – bis schließlich der schicksalhafte Sommer 1948 erreicht ist, Anfang- und Endpunkt zugleich.

„Die Sommer mit Lulu“ ist die Geschichte einer tragischen Romanze, aber auch ein kluger Gesellschaftsroman und eine wunderbare Hommage an Mallorca. Kurz gesagt: die perfekte Sommerlektüre – nicht nur für den Liegestuhl am Mittelmeer.