John le Carré: DER TAUBENTUNNEL

Der ewige Agent

23. August 2016
Mit 85 Jahren ist es Zeit für Memoiren – dies gilt auch für den König der Agententhriller. Mitreißend erzählt John le Carré von seinen Reisen und seinen Begegnungen mit den Mächtigen dieser Welt.

Mitunter sind es banale Ereignisse, die dem Leben eine neue Wendung geben. Für David Cornwell alias John le Carré war es im Frühling 1974 so weit. Zehn Jahre zuvor hatte er den Dienst beim britischen Geheimdienst quittiert und sich ganz aufs Schreiben verlegt, nachdem sein Roman „Der Spion, der aus der Kälte kam“ zum Welterfolg wurde. 1974 dann reiste le ­Carré nach Hongkong und musste zu seiner Bestürzung feststellen, dass zwischen dem Festland und Hong Kong Island ein Tunnel existierte. Ein Höhepunkt seines neuen Thrillers „Dame, König, As, Spion“, der gerade gedruckt wurde, war aber eine ­Verfolgungsjagd über jene schmale Meerenge – in dem uralten Reiseführer, auf den er sich beim Schreiben gestützt hatte, war von ­einem Tunnel nicht die Rede. Nie wieder, so schwor er sich, werde er eine Szene an einem Ort spielen lassen, den er nicht vorher selbst besucht hatte.

Dem 43-Jährigen war es aber nicht nur peinlich, bei der Recherche versagt zu haben. „Es ging auch darum, dass ich in der Mitte des Lebens fett und faul geworden war und von einem Schatz vergangener Erfahrungen zehrte, der langsam zur Neige ging. Es war an der Zeit, mich unbekannten Welten zu stellen.“ Fortan reiste le Carré um die Welt, flog nach Moskau, Beirut, in die Negev-Wüste, nach Panama, Vietnam und in den Kongo. Er traf Politiker, Mafiosi, Soldaten und Warlords und tauchte ein in die Schattenreiche, die er dann in seinen Romanen wiederauf­erstehen ließ.

Lange musste die Welt darauf warten, bis der König des Agententhrillers nun endlich von seinem abenteuerlichen Leben berichtet. In „Der Taubentunnel“ erzählt der bald 85-Jährige witzig, selbstironisch und mit untrüglichem Gespür für gelungene Pointen von seinem Leben, von gefährlichen Reisen, von Erfolgen, Ängsten und Niederlagen. Und von denkwürdigen Begegnungen, etwa mit PLO-Chef Jassir Arafat, mit dem russischen Außenminister Jewgeni Primakow, mit Margaret Thatcher, Richard Burton, Stanley Kubrick und vielen mehr. Von seiner Arbeit im Dienste Ihrer Majestät gibt er freilich wenig preis – das Gebot der Verschwiegenheit gilt für ihn lebenslänglich.

Deutlich weniger zugeknöpft zeigt sich John le Carré, wenn es darum geht, politische Missstände zu benennen. So traf er 2006 im Zuge seiner Recherchen für den Thriller „Marionetten“ den Deutschtürken Murat Kurnaz, der fünf Jahre lang in Guantanamo in Haft saß. Kritisch geht er nicht nur mit den Amerikanern ins Gericht, die Kurnaz demütigten und folterten, sondern auch mit dem damaligen BND-Präsidenten August Hanning, der Kurnaz’ Frei­lassung trotz nachgewiesener Unschuld für einen Fehler hielt.

Als Spion in BonnAnfang der 1960er Jahre wurde le Carré vom britischen Geheimdienst nach Bonn versetzt. Als Diplomat getarnt, horchte er deutsche Politiker aus und verkehrte mit alten Nazis, die so alt gar nicht waren und nun wieder an den Schaltstellen der Macht saßen. Am Rhein vertiefte er seine Liebe zur deutschen Sprache und Literatur, und er schrieb dort seine beiden ersten Thriller um den Agenten und Antihelden George Smiley, der in fünf Romanen zum Einsatz kam und später im Film so unübertrefflich von Alec ­Guinness verkörpert wurde. Schnell war le Carré klar, dass Spionagetätigkeit und Schriftstellerei wie füreinander geschaffen sind: „Beide erfordern sie ein waches Auge für menschliche Verfehlungen und die vielen Wege hin zum Verrat.“

Ein Kapitel seiner Memoiren hat der Autor seinem Vater Ronnie  gewidmet, einem Hochstapler und Betrüger, der Frau und Kinder schlug und jahrelang im Gefängnis saß. Liebe, Vertrauen und Zuneigung lernte der junge David Cornwell nie kennen. Stattdessen wurde er zum Tricksen, Tarnen und Täuschen gezwungen – der Grundstein für die Karriere als Geheimniskrämer: „Ich bin zum Lügen geboren, dazu erzogen worden, von einer Industrie darin aus­gebildet worden, die das Lügen als Lebensunterhalt betreibt, habe das Lügen als Schriftsteller praktiziert.“ Mit seinen Memoiren hat er nun seinen Frieden mit dem Vater gemacht. Zu dessen Lebzeiten ist es ihm nicht gelungen: „Schon fast in beiderseitigem Einvernehmen kam es zwangsläufig zu fürchterlichen Szenen, und wenn wir das Kriegsbeil begruben, vergaßen wir nie, wo genau es lag.“

Mitreißend, unterhaltsam und spannend wie einen Thriller erzählt le Carré in „Der Taubentunnel“ sein Leben – doch kann man ihm, dem ewigen Agenten, überhaupt trauen? Er wolle „wahre Geschichten nach meiner Erinnerung erzählen“, versichert der Schriftsteller, der 2011 die Goethe-Medaille für sein Lebenswerk erhielt. An keiner Stelle habe er bewusst ein Ereignis oder eine Geschichte verfälscht. „Verschleiert, wenn nötig. Verfälscht, auf gar keinen Fall.“ Willkommen in der Welt des John le Carré!