Bodo Kirchhoff: WIDERFAHRNIS

Mitten ins Herz

7. Oktober 2016
Bodo Kirchhoff hat in diesem Jahr den Deutschen Buchpreis gewonnen für seine Novelle  „Widerfahrnis“. Er erzählt darin die Geschichte eines Aufbruchs zweier Menschen – und was ihnen bei ihrer Reise widerfährt

Der Frankfurter Schriftsteller Bodo Kirchhoff, der auch diesen Sommer am Gardasee verbringt, ist ein Spezialist für komplizierte Beziehungslagen. Wie kaum ein anderer deutscher Gegenwartsautor kann er Liebe und Begehren beschreiben – mitsamt ihren Abgründen und Obsessionen. 

Die nie zu stillende Lust am Miteinander, aber auch die damit verbundenen Gefahren waren von Anfang an zentrale Motive im Werk des 1948 geborenen Autors. „Es gibt in unserem Leben positive und negative Existenzrisiken. Zu den negativen zählen Armut, Krankheit, Flucht, Krieg“, sagt er. „Und dann gibt es die ­positiven: Lieben und Geliebt-zu-Werden, Begehren und Begehrt-zu-Werden. Diese alltäglichen Risiken haben mich schon immer beschäftigt.“  

Dennoch ist das Œuvre dieses Schriftstellers vielgestaltig. Seine ersten Bücher, beginnend mit der 1979 erschienenen und vor drei Jahren neu aufgelegten Novelle „Ohne Eifer, ohne Zorn“  führten in Bordelle, Peepshows und Stundenhotels. Kirchhoff schrieb schnörkellos und beinhart von einer schmutzigen Welt. Am Anfang brachte ihm das den Vorwurf ein, gefühlskalt zu sein. Dabei ging es ihm immer nur darum, zum Kern der Dinge vorzustoßen. 

Aber Bodo Kirchhoff wollte mehr sein als nur der kühle, sezierende Stilist. Sein Erzählen ist reicher an Farben geworden. Die Frage, die ihn beschäftigt: Wie lässt sich von den Momenten im ­Leben erzählen, die eigentlich die Grenzen der Literatur sprengen, weil sie in andere Bereiche drängen – auch zum Pathos hin. „Es gibt eine starke Tendenz, die Dinge auszudünnen und sehr kalt zu erzählen, wie ich es als junger Autor auch getan habe. Mittler­weile habe ich jedoch gelernt, anders mit meinem Stoff umzu­gehen“, sagt Kirchhoff.

Romane wie „Infanta“ und „Die Liebe in groben Zügen“ zeigen das auf großartige Weise. Kirchhoff erweist sich darin als ein Romancier, der die Emphase, den hohen Ton keineswegs scheut, wenn es um große Gefühle geht. Auch sein aktuelles Buch ist dafür Beleg. Am Anfang von „Widerfahrnis“ steht die Begegnung zweier Menschen, die beide herbe Verluste erfahren haben. Leonie Palm hat ihr Berliner Hutgeschäft aufgegeben, weil es der Epoche an „Hutgesichtern“ fehle. Und auch das Schicksal ihrer Tochter lässt sie nicht los. Julius Reither wiederum hat seinen kleinen Verlag liquidiert, weil es inzwischen mehr Schreibende als Lesende gebe. Vom Leben erwartet der Ruheständler nicht mehr viel. 

Doch dann klingelt eines Abends Leonie Palm an seiner Wohnungstür. Und wenig später brechen die beiden, die sich bisher als Bewohner eines Ressorts in einem Alpental kaum kannten, zu einer gemeinsamen Spritztour im BMW-Cabrio auf. Einfach so – aus Übermut und einer schönen Lust an der Unvernunft. Der nahe Tiroler Achensee ist das Ziel, aber dann fahren sie immer weiter – in den Süden, bis nach Sizilien. Behutsam schildert Kirchhoff die Annäherung zweier Menschen, die unverhofft noch einmal die Leidenschaft überkommt.

Aber damit ist erst der Anfang dieser Novelle erzählt; die unerhörte Begebenheit liegt nicht in diesem Aufbruch. Sie erwartet das auf leise, schöne Art immer vertrauter werdende Paar erst im sizilianischen Catania. Ein Flüchtlingsmädchen steht plötzlich vor den beiden – stumm, aber gebieterisch. 

Sie verkörpert das Widerfahrnis. Oder wie es im Buch heißt: „Das war mehr als die vergessene Heimsuchung – da muss man nur hinhören, muss nur hinsehen, dann ist es die Faust, die einen unvorbereitet trifft mitten ins Herz, aber auch die Hand, die einen einfach an die Hand nimmt.“ So geschieht es in Catania. Die Verliebten geben dem Mädchen Essen, ein Bett, neue Kleider und schließlich einen Platz im Auto – auf dem Weg zurück gen Norden. 

Aber das fragile Gleichgewicht gerät bald ins Wanken, und plötzlich ist alles dahin – auch die Vorstellung von einer gemeinsamen Zukunft. Das Flüchtlingselend lässt die berückende Glücksidee des Paares zu einer privaten Petitesse schrumpfen, die schließlich an der unanfechtbaren „Evidenz der Welt“ zerbricht. 

Doch auch das ist noch nicht das Ende. Zuletzt macht Julius Reiter eine ganz andere, unverhoffte Erfahrung. Seine Rückkehr verspricht so einen Aufbruch zu etwas gänzlich Neuem