Cynthia d'Aprix Sweeney

Stürmische Zeiten

21. November 2016
Nicht nur das Wetter ist ungemütlich bei diesem Familientreffen: Vier Geschwister, allesamt in Geldnot, spekulieren auf ihr Erbe – doch alles kommt anders in Cynthia D’Aprix Sweeneys ebenso komischem wie bitterbösem Debütroman „Das Nest“. 

New York City im Oktober: schneebedeckte Straßen, umgeknickte Bäume, in manchen Vierteln bricht die Stromversorgung zusammen. In Cynthia D’Aprix Sweeneys Roman „Das Nest“ wird der unerwartete Wintereinbruch zum Vorboten eines ziemlich ungemütlichen Familientreffens. Einer Krisensitzung, könnte man auch sagen. Denn es geht um Geld. Um viel Geld. Beziehungsweise darum, was aus dem vielen Geld geworden ist. 

Leo, Beatrice, Melody und Jack Plumb – vier erwachsene Geschwister, die unterschiedlicher kaum sein könnten – sind im „Oyster“ in Manhattan verabredet, einem Restaurant, das ihnen aus Kindertagen vertraut ist. Doch vor dem Wiedersehen benötigt jeder erst einmal einen kleinen Mutmacher. Wollte man Cynthia D’Aprix Sweeneys Charaktere mit einem Satz beschreiben, könnte man das vielleicht so tun: Sage mir, was du trinkst, und ich sage dir, wer du bist. Und wie schon bei der Beschreibung der Wetterkapriolen gelingt es Sweeney auch hier, mit wenigen Worten ein ganzes Leben samt all seiner Abgründe zu erzählen. Genauer gesagt: vier Leben und vier Abgründe. 

„Ich habe einfach das Buch geschrieben, das ich schreiben wollte, und dabei nicht daran gedacht, was ein Verlag oder Agent wollen könnte“, verrät die Autorin in einem Interview. Es ist die Geschichte einer – gelinde gesagt – ziemlich gestörten Familie geworden, deren Mitglieder Sweeney schonungslos, ironisch und zugleich voller Zuneigung beschreibt – und die viel Stoff bieten, sich und seine lieben Angehörigen darin wiederzuerkennen. Denn mal ehrlich: Wessen Familie ist schon normal? 

Die Vorstadt-Mutter Melody ordert in einer Hotelbar ein überteuertes Glas mittelmäßigen Weißweins. Der homosexuelle Jack lässt seinen Drink verärgert zurückgehen, weil er meint, die Minze darin sei nicht ordnungsgemäß zerdrückt worden. Die gescheiterte Schriftstellerin Beatrice genehmigt sich an der Theke ihrer schummerigen Stammbar einen Kaffee mit Schuss. Nur einer fällt aus der Reihe: Lebemann Leo hat nach einem folgenschweren Unfall unter Alkoholeinfluss gerade einen Entzug hinter sich und muss trocken bleiben. Wenigstens so lange, bis seine Scheidung durch ist. 

Gemeinsam haben die Geschwister genau zwei Dinge: ihre Geldnot – sie sind alle mehr oder weniger pleite – und das Erbe, auf das sie spekulieren. Ihr Vater hat es in Form eines Aktienfonds angelegt, den die Geschwister das „Nest“ nennen – vielleicht deshalb, weil es die finanzielle Sicherheit darstellt, nach der sie sich alle geradezu schmerzlich sehnen. 

Ein Traum wird wahr

Menschen können sich ändern. Aber „häufiger bleiben sie so, wie sie sind“, heißt es im Roman. Für das Leben seiner Autorin gilt das definitiv nicht. Cynthia D’Aprix Sweeney ist gerade 50 geworden, als sie beschließt, ihrem Leben eine völlig neue Richtung zu geben. Die Mutter zweier Söhne wirft ihren Job hin und geht ans College, um Schreibkurse zu belegen. Schon als junge Frau hat sie davon geträumt, Schriftstellerin zu werden. 

Sweeney hat fast 20 Jahre lang in New York als PR-Beraterin für große Unternehmen gearbeitet. Jetzt will sie ihren Traum vom Schreiben wahr machen. Ihr erstes Werk ist eine Kurzgeschichte. Ihr College-Dozent rät ihr, daraus etwas Längeres zu machen. Das ist die Geburtsstunde von „Das Nest“. Nur drei Jahre später, im Frühjahr 2016, erscheint der Roman in den USA. Er schafft es auf Anhieb auf die „New York Times“-Bestsellerliste, wo er sich elf Wochen lang hält. Ein Traum wird wahr. 

Manchmal könne sie es selbst immer noch kaum glauben, sagt Sweeney. Das Geheimnis ihres Erfolgs? „Mein Agent sagte, der beste Tag, um einen Roman über eine gestörte Familie zu präsentieren, ist der, an dem alle ­Redakteure von der Thanksgiving-­Feier mit ihren gestörten Familien zurückkommen“, erzählt sie augenzwinkernd in einem Interview. 

Bis heute wurde „Das Nest“ in über 20 Länder verkauft. Das Motto dieses Erfolgs könnte lauten: Nur wer sich ändert, bleibt sich treu. Gleiches würde auch auf die vier Plumb-Geschwister passen. Als ihre Mutter das Erbe zweckentfremdet, um ihrem Sohn Leo aus der Klemme zu helfen, sehen sie sich um ihre Erwartungen betrogen. Ihre ganze Lebensplanung ist plötzlich infrage gestellt. Um es mit dem Wetter zu sagen: Es brechen stürmische Zeiten an.