E.O. Chirovici: DAS BUCH DER SPIEGEL

Mysteriöses Verbrechen

23. Februar 2017
Wer hat Professor Joseph Wieder ermordet? Ein Manuskript rollt den alten Fall neu auf, doch die Suche nach der Wahrheit erweist sich als kompliziert … In seinem raffinierten Spannungsroman „Das Buch der Spiegel“ glänzt E. O. Chirovici mit Zerrbildern des Erinnerns.  

Was ist Wahrheit, was Lüge? Alle, die damals den berühmten Professor kannten und mit ihm Umgang pflegten, graben andere Geschichten aus ihrem Gedächtnis aus. Diese Geschichten scheinen aber mehr über die Obsessionen des Menschen zu offenbaren, der sie erzählt, als darüber, was wirklich geschah. Fest steht: In einer Dezembernacht im Jahr 1987 wird der Psychologieprofessor Joseph Wieder in seinem Haus in Princeton erschlagen. Handwerker Derek Simmons findet die Leiche am nächsten Morgen. Die Polizei kann den Täter aber nicht ermitteln.

 Fast drei Jahrzehnte später bekommt Literaturagent Peter Katz die Auszüge eines Romanmanuskripts zugeschickt, das von den damaligen Ereignissen erzählt. Verfasst hat es Richard Flynn, der seinerzeit in Princeton studierte. Mehr noch: Seine Mitbewohnerin und Geliebte Laura Baines stand dem Professor nah und vermittelte Flynn einen Nebenjob in dessen Bibliothek. Flynn schreibt, dass Wieder regelmäßig als Gerichtsgutachter wirkte. Zudem habe er an einem wegweisenden Buch über die menschliche Hirntätigkeit und an einem ebenso geheimen Projekt über posttraumatischen Stress gearbeitet. Doch Flynns Roman endet abrupt, ausgerechnet am Abend vor dem Mord. Was ist in jener Nacht vor 30 Jahren geschehen?

Peter Katz wittert einen literarischen Coup über ein wahres Verbrechen. Weil Flynn inzwischen verstorben ist, beauftragt er  John Keller, Quellen aus jener Zeit anzuzapfen. Der Journalist arbeitet gut, aber je mehr er erfährt, desto undurchsichtiger erscheint alles. Kein Detail passt zum anderen, jeder kramt eine andere Lesart aus dem „vollgestopften alten Schrank“ der Erinnerungen. Mal war Wieder ein Frauenheld, mal ein Eigenbrötler. Mal soll er ein Genie gewesen sein, dann wieder ein Scharlatan.

 Als Kellers Beziehung zu seiner Freundin scheitert, gibt er den Dämonen des Falls die Schuld. Frustriert beendet der Journalist seine Recherchen im ausweg­losen Labyrinth. 

Wie Matroschkas, die ineinander verschachtelten russischen Puppen, eröffnet auch Autor E. O. Chirovici noch ein weiteres ­Kapitel in seinem Roman „Das Buch der Spiegel“, in dem unvollendete und unauffindbare Bücher so bedeutsam sind: Nach Flynn und Keller schickt er mit Roy Freeman den dritten Mann auf die Jagd nach der Wahrheit. Der Ex-Polizist ermittelte seinerzeit und empfindet den ungelösten Mord als Waterloo seiner Karriere. ­Diese Scharte will er nun auswetzen.


Überrascht vom Erfolg

Mit „Das Buch der Spiegel“ hat Chirovici – gesprochen „Kirowitsch“ – es erstmals gewagt, einen Roman auf Englisch zu ­schreiben. In seiner Heimat Rumänien war der Medienmanager bereits ein namhafter Autor, bevor er vor vier Jahren nach England und in die USA ging, um nur noch Schriftsteller zu sein.

Für seinen psychologischen Thriller über die Fallstricke des Erinnerns – was Menschen tatsächlich erlebt zu haben glauben und wie sie sich dabei irren – fand der 52-Jährige aber zunächst keinen Abnehmer. „Ich bekam nur Ablehnungen“, sagt er. Nur der Geschäftsführer eines kleinen englischen Verlags ahnte, welches Meisterstück ihm da zugesandt worden war. Der Mann war aufrichtig genug, Chirovici an Literaturagenten größerer Verlagshäuser weiterzuschicken. Mit Erfolg: Inzwischen ist „Das Buch der Spiegel“ ein internationaler Bestseller, was den Rumänen anfangs „fast ein bisschen erschreckt“ hat.

Die Romanidee kam Chirovici im Gespräch mit seiner Mutter und seinem Bruder. „Ich erzählte ihnen von meinen Erinnerungen an das Begräbnis eines Fußballspielers aus unserer Stadt“, sagt er. Als er vom offenen Sarg berichtete, habe seine Mutter erklärt, dass er unmöglich dabei gewesen sein könne. Vermutlich habe er das nur erzählt bekommen. Chirovici: „Dies ist nur ein kleines Beispiel für die große Fähigkeit des menschlichen Geistes, Erinnerungen zu schönen oder gar zu verfälschen.“

 Die Wahrheit des einen ist die Lüge des anderen: Diese verstörende Erkenntnis über das menschliche Gedächtnis macht die Magie des meisterhaft aufgebauten Romans aus. Jedes Buch im Buch ergibt nicht nur ein neues Puzzleteil auf dem verschlungenen Weg, den Mord aufzuklären, sondern steht auch als Geschichte in der Geschichte für sich. Jeder Perspektivwechsel erlaubt einen faszinierenden Einblick in Kopf und Dasein des Erzählenden. 

Das alles liest sich spannend und atemlos, wie aus einem Guss. Chirovici spielt brillant, sprachlich souverän und sehr klug mit dem Ungewissen im Gewissen.