Verena Petrasch: SOPHIE IM NARRENREICH

Kostbare Fantasie

20. März 2017
Was würden wir tun, wenn nur wir das Glück zweier Welten retten könnten? In ihrem furiosen Debütroman schickt Verena Petrasch ihre Heldin in ein Reich voller skurriler Wunder und hinreißender Narreteien.

Stellen wir uns eine Welt neben unserer vor: eine, in der es sprechende Eichen, ungezähmte Regen­bögen und Zeit gibt, die man nach Belieben verlangsamen oder schneller ablaufen lassen kann. Eine Welt, in der alle Macht in den Händen von Narren liegt, die es als ihre Aufgabe ansehen, jedem ein Leben lang sein inneres Kind zu erhalten, indem sie fantastische Gedanken und Glück schenken. 

„Sanfte Nebelschwaden umspielten Moos und Wurzelwerk, dazwischen wuchsen Pilze, Kräuter und Beeren. Ein verheißungsvoller Duft von Abenteuer lag in der Luft.“ Das ist die Welt, in der Verena Petraschs couragierte, eigenwillige Heldin, die elfjährige Sophie, lebt. Allerdings nur in ihrer Fantasie. Nur? Die meisten Kinder – und auch viele Erwachsene – wissen, dass die wirkliche Welt und die Welt der Fantasie eng miteinander zusammenhängen. Ist die eine bedroht, ist auch die andere in Gefahr. Es gibt jedoch Menschen, die diesen Zusammenhang nicht sehen. Für sie existiert nur die große, vernünftige Welt der Erwachsenen, in der es keinen Platz für Rätsel und Magie gibt. Fantasie und Träume tun sie einfach als Kinderkram ab. Das gilt auch für Sophies Mutter, die ihrer Tochter immer sagt, sie solle nicht so verträumt sein, sondern sich wie ein großes Mädchen benehmen und endlich vernünftig werden. 

„Da plötzlich, ein Kichern! Sophie horchte auf: ‚Hallo? Ist da jemand?‘“ – In der Nacht auf ihren zwölften Geburtstag macht ­Sophie eine unglaubliche Entdeckung: In ihrem Kleiderschrank sitzt Theobald, ein Gedankennarr, der eigens aus dem Narrenreich gekommen ist, um Sophies Gedanken wie kostbare Schätze zu sammeln. In seiner Heimat gibt es unzählige Arten von Narren: Generationennarren sorgen dafür, dass die Weisheit eines Menschen am Ende seines Lebens nicht einfach verloren geht, sondern an einen anderen Menschen weitergegeben wird. Und wer schon einmal an einem schönen Sonnentag unter einem Baum im Gras saß und mit einem Mal von einem stillen, tiefen Glücksgefühl durchströmt wurde, hat die Macht eines Lufthauchnarren gespürt, der über ihm im Baum gesessen und ihm das Glück wie einen warmen Lufthauch ins Gesicht gepustet hat. Gedankennarren wie Theobald sind in der Lage, Menschen fantastische Gedanken einzupflanzen, die dann wie Samenkörner aufgehen und zu Ideen und Plänen heranwachsen. Doch fantastische Gedanken sind selten geworden in einer Zeit, in der immer weniger Menschen Fantasie haben. Und damit bringen sie die ganze Welt in Gefahr: Denn ohne sich dessen bewusst zu sein, unterstützen die Menschen so den mächtigen Schwarznarren Kiéron, der der Welt ihren Zauber und alle Freude nehmen will. Der Legende nach kann Kiéron nur von einem Menschenkind aufgehalten werden, das sich mit traumwandlerischer Sicherheit zwischen beiden Welten bewegt und in der Wirklichkeit ebenso zu Hause ist wie in der Fantasie: Ist Sophie dieses Menschenkind?

Eines der wichtigsten Werkzeuge der Narretei ist die Vorstellungskraft: Je bunter und lebendiger jemand die Dinge vor seinem inneren Auge sieht, je tiefer er in sie eindringt, desto leichter gelangt er an sein närrisches Ziel. Verena Petrasch hat dieses Ziel ohne Zweifel erreicht: Mit „Sophie im Narrenreich“ hat sie einen der eigenwilligsten, spannendsten und mitreißendsten Fantasyromane der vergangenen Jahre erschaffen. Mit ihrer Heldin teilt die Schriftstellerin und Grafikerin unter anderem die Leidenschaft für das Zeichnen. Dass sie die Macht der Bilder beherrscht, merkt man ihrem Roman an. Mit ihrer Sprachkraft schafft sie Traumbilder voller Magie. Und wenn sie von geheimnisvollen Wäldern, den verschiedenen Narren und der Kunst des Fliegens erzählt, kann man alles so intensiv mitfühlen und so deutlich vor sich sehen, als wäre es Wirklichkeit – eine traumhafte, verlockende Wirklichkeit. Doch was für Verena Petraschs junge Heldin Sophie wie ein Traum beginnt, entpuppt sich bald als ein gefährliches und wahrhaft närrisches Abenteuer.