Jo Nesbø: DURST

Multitalent und Grenzgänger

9. Oktober 2017
Mit Harry Hole hat Jo Nesbø eine faszinierende literarische Figur erschaffen. In dem neuen Thriller „Durst“ konfrontiert er seinen Ermittler mit brutalen Serienmorden.

So sollte es enden, genau so.“ Nach diesem Satz, dem letzten aus „Koma“, waren viele Krimifans überzeugt: Jo Nesbøs zehnter Harry-Hole-Thriller wird der letzte sein. Schon einmal allerdings hatte man geglaubt, dass die fabelhafte norwegische Thriller­serie keine Fortsetzung findet, nämlich als Harry Hole am Ende von Band neun („Die Larve“) mit einem Kopfschuss niedergestreckt wurde. Doch Nesbø hat  noch längst nicht genug von dem charismatischen Polizisten, der in seinem Leben so viel einstecken und erleiden musste. Und so schickt der 57-jährige Autor seinen 1,93 Meter langen Schmerzensmann und Spezialisten für Serienkiller, dem er sich in gewisser Weise seelenverwandt fühlt, in „Durst“ wieder auf Verbrecherjagd. 

Aus dem regulären Dienst im Dezernat für Gewaltverbrechen hat sich Harry zurückgezogen, unterrichtet stattdessen an der Polizeihochschule in Oslo. Anfangs darf er an der Seite seiner großen Liebe Rakel etwas völlig Ungewohntes erleben: Harry, der ewige Melancholiker und Pessimist, ist glücklich – und doch fühlt es sich für ihn so an wie der Gang über dünnes Eis.

Und sein Gespür hat ihn wieder einmal nicht getrogen: Harry wird von seinem Exchef genötigt, an der Aufklärung einer Mordserie mitzuarbeiten, bei der Frauen über die Dating-App Tinder in die Falle gelockt werden. Schnell wird Harry klar, dass er den Killer von früher kennt: Es ist der Mann, der sich einen Dämon auf die Brust tätowieren ließ und den die ­Polizei nie zu fassen bekam. Die neue, entsetzliche Dimension des jüngsten Falls ist die rituelle Art und Weise, wie der Mann tötet. Eine zwanghafte Handlung „aus der hintersten, dunkelsten Ecke der Psychiatrie“, wie Jo Nesbø verrät. Für Harry Hole wird es ein Fall, bei dem er ein weiteres Mal sein Leben riskieren und abtauchen muss in eine äußerst finstere Welt des Verbrechens. 

Die Figur des norwegischen Kommissars kam Jo Nesbø vor mehr als 20 Jahren auf einem Flug nach Austra­lien in den Sinn. Damals, mit Anfang 30, war er in Norwegen ein Folk­rock-Star, stand als Gitarrist und Sänger der norwegischen Band „Di Derre“ (deutsch „Die da“) fast jeden zweiten Abend auf der Bühne und verdiente sein Geld als Börsenmakler. Doch das hochtourige Leben war irgendwann zu viel für ihn: „Es ging einfach nicht mehr so weiter.“ 

Nesbø nahm sich ein halbes Jahr unbezahlten Urlaub und buchte einen Flug nach Down Under. Er hatte seinen Laptop dabei und spielte mit dem Gedanken, ein Buch über sein Leben mit „Di Derre“ zu schreiben. Doch dann interessierte ihn die Idee, einen Kriminalroman zu schreiben, mehr. Er erfand Harry Hole, der nach Australien fliegt, um den Mord an einer norwegischen Schauspielerin aufzuklären. 

Bestseller als Debüt
Nesbø schrieb wie im Rausch, nicht selten bis zu 18 Stunden täglich – und bewies sein Talent als Autor: „Der Fledermausmann“ (1997) war auf Anhieb ein Bestseller in Norwegen und ermöglichte es dem Autor, seinen Börsenjob an den Nagel zu hängen. Ihren Erfolg verdankt die Thriller­serie zweifellos ihrer faszinierenden Hauptfigur, dem Instinktmenschen, Grenzgänger und Alkoholiker Harry Hole, seiner kompromisslosen Suche nach Gerechtigkeit und seiner tiefen Abneigung gegen Regeln und Autoritäten. 

Nesbøs Thriller fesseln aber auch wegen ihrer komplexen und bis in perfide Details stimmigen Handlung. Vermeintlich lose Enden einer Story finden stets einen passenden Abschluss, und trotz aller Härte sind für den Norweger Gewalt und Schockeffekte niemals Selbstzweck. „Mich haben die großen moralischen Fragen eines Mordfalls schon immer mehr interessiert als die technischen Details“, sagt Nesbø, der übrigens auch mit Erfolg Kinderbücher schreibt.  

Herausforderung Klettern
Jo Nesbø mag extreme Typen – und ist selbst einer, der gern an seine Grenzen geht und Extremes liebt. Als junger Mann wäre er fast Fußballprofi geworden, spielte mit 17 in der ersten norwegischen Liga. Zwei Jahre später war es vorbei mit der Karriere – die Kreuzbänder in beiden Knien waren gerissen. 

Sportliche Herausforderung und Nervenkitzel findet er heute beim Klettern, wofür er um die ganze Welt reist. „Klettern ist wie Schreiben. In 99 von 100 Fällen kommt man nicht dort an, wo man hinwollte, und erreicht nicht, was man sich vorgenommen hat. Es dreht sich alles ums Scheitern. Aber genau das ist es, was mich weitermachen lässt.“ Mit seinen Thrillern ist Jo Nesbø, dem Multi­talent, etwas Außerordentliches gelungen. Krimifans dürfen gespannt sein, in welche Höhen und welche Abgründe er seinen großen Ermittler Harry Hole noch führen wird.