Danielle Paige: SNOW

Prinzessin im Eis

2. November 2017
Snow weiß nur, dass sie anders ist, aber nicht, dass sie magische Kräfte besitzt. Erst in Algid erfährt das Mädchen, dass allein sie das erkaltete Reich aus den eisigen Klauen des Königs befreien kann.

Der Weg über das Eis zum stabilen schneebedeckten Festland war ungeheuer glatt. Jetzt bin ich wieder auf mich allein gestellt, dachte ich. Doch ich rutschte aus und fiel direkt aufs Gesicht. Auf einmal fühlte ich mich deutlich schwächer, mir wurde eng um die Brust und ich schnappte nach Luft. Im Whittaker hätte Dr. Harris meine Dosis erhöht. Ich war ein Wrack.
Plötzlich sah ich Stiefel. Als ich den Blick hob, entdeckte ich Kai, den Jungen vom Boot.
Er hob mich auf. Ich war so überrumpelt, dass ich mich nicht wehrte, und sah ihm einen Augenblick zu lang in die Augen. Sie waren groß und blau und irgendwie kühl. Ich zuckte nicht mit der Wimper, bis auch er sich auf mich konzentrierte. Es war anders als im Fernsehen. Ich fühlte mich nicht federleicht in seinen Armen. Es war mehr wie eine Umarmung. Ich spürte meine Last an seiner Brust, wie er das Gleichgewicht hielt, während er mich hochhob und an sich drückte. 
„Dein Instinkt wegzulaufen, war schon richtig“, flüsterte er, wiegte mich in seinen Armen und ging über das Eis zurück.
„Moment … was machst du da?“
„Ich bringe dich zurück.“
„Warum?“ Kai versteifte sich plötzlich.
Irgendwie gehörte er zur Flusshexe. Selbstverständlich brachte er mich zurück. Jetzt wehrte ich mich doch.
„Lass mich runter“, forderte ich. „Danke für deine Hilfe, aber ich muss jetzt weiter. Grüß die Flusshexe von mir.“
Rettete er mich oder war das eine Entführung?
„Die Grüße kannst du Nepenthe selbst ausrichten“, erwiderte er, ohne mich runterzulassen.
Ich erwog, ihn zu treten oder zu beißen. Doch da er mich gerade vor dem Fluss gerettet hatte, zog ich es vor, das Problem mit Worten statt mit Zähnen zu lösen.
„Halt still“, flüsterte Kai.
Doch als ich den Hals verdrehte, sah ich gerade noch rechtzeitig, dass vom Boot aus ein riesiger Riss durchs Eis ging. Kai holte tief Luft und sprang an Land, während er mich weiterhin festhielt.
Er setzte mich auf dem Festland ab, aber er selbst schaffte es nicht, rutschte ins Wasser und verschwand in der Tiefe. Schreiend wälzte ich mich auf den Bauch und streckte in dem Moment den Arm aus, als seine Hand wieder auftauchte. Verzweifelt versuchte er, sich an etwas festzuhalten. Dann erschien auch sein Kopf; er blinzelte und suchte mit wildem Blick nach einer Möglichkeit, oben zu bleiben und aus dem Wasser zu steigen.
Ich packte seine Hand, entschlossen, ihn nicht loszulassen. Nicht wie Bale, nicht schon wieder.
„Halt dich an mir fest.“
Es gelang ihm, sich mit der anderen Hand am Festland festzukrallen, und ich zog ihn mit aller Kraft aus dem Wasser.
Kai blieb kurz keuchend neben mir auf dem Boden liegen. Ich schaute zu, wie sich seine Brust hob und senkte, wie sie sich immer mehr nach innen wölbte. Während ich darauf achtete, dass er auch ja weiteratmete, schlug er plötzlich die Augen auf und sah mich an. Für den Bruchteil einer Sekunde war sein Blick nicht so böse wie sonst, sondern ganz entspannt. Er lächelte beinahe, so erleichtert war er, noch am Leben zu sein. Dann verdüsterte sich sein Blick erneut, doch das bezog sich nicht auf mich, denn er schaute an mir vorbei zum Himmel.
„Wir müssen rein, sofort!“, rief er und sprang so energisch auf, wie ich es nach der knappen Rettung aus dem Fluss nicht erwartet hätte. Dann riss er mich hoch.
Ich sah zum Fluss, von dem nun kein eisiger Weg mehr zum Boot führte. „Aber wie sollen wir –“
Er zog mich in die andere Richtung zum Waldrand.
„Was ist denn?“, fragte ich und ließ mich von ihm weiterzerren.
„Ein Sturm zieht auf. Und ich meine nicht irgendeinen Sturm. Es gibt nur einen Menschen, der etwas so Heftiges loslassen kann: der König.“