Juli Zeh: LEERE HERZEN

Geschäft mit dem Tod

22. November 2017
Bissiger Gegenwartskommentar und spannender Thriller zugleich: Juli Zeh spürt in ihrem hochpolitischen neuen Roman den verloren gegangenen Werten und Idealen unserer Gegenwart nach. Schmökern Sie in unserer Leseprobe in das Buch rein!

Ein Soundtrack durchzieht den neuen Roman der Erfolgs­autorin Juli Zeh, gesungen von einem zwölfjährigen Shootingstar: „Full Hands, Empty Hearts / It’s a Suicide World, Baby“. Und mit diesem fiktiven Song ist schon sehr viel über das Buch gesagt. Wir befinden uns in Deutschland und in einer nicht allzu fernen Zukunft, im Jahr 2025. Das Land wird regiert von der „Bewegung Besorgter Bürger“; Europa ist gerade im Begriff, politisch endgültig auseinanderzufallen; Frankreich bereitet den „Frexit“ vor. Britta ist eine junge Mutter, durchaus glücklich verheiratet. Sie hat mit ihrem Geschäftspartner Babak eine Idee geboren, die in Zeiten wie diesen geradezu auf der Hand liegt: Die „Brücke“, wie ihr Unternehmen heißt, tarnt sich als sogenannte Ego-Polishing-Agentur. In Wahrheit suchen die beiden im Darknet nach Selbstmördern, um diese gezielt und kontrolliert als Attentäter an Organisationen weiterzuvermitteln – für einen guten Zweck wie beispielsweise Tier- oder Umweltschutz. 

Der Gedanke, der dahintersteckt, ist ebenso zynisch wie ­bestechend: Wenn die Menschheit nicht mehr weiß, für welche Prinzipien und Ideale es sich zu leben lohnt, dann gibt man wenigstens der Lebensmüdigkeit einen tieferen Sinn. 

Juli Zeh ist eine hochpolitische Autorin, die bei ihrem neuen Buch hinter der Fas­sade eines satirischen Thrillers geschickt die ganz großen Fragen inszeniert: Welche Ideale haben wir noch? Wofür lohnt es sich zu kämpfen und zu brennen? Und vor allem: Wie konnte es überhaupt so weit kommen? 

Paul Schmitt

Leseprobe

Im Untergeschoss rumort es. Wie alle Gewerbeeinheiten in der Kurt-Schumacher-Passage verfügt die Praxis über eine tiefer gelegene Ebene, fensterlose, gekachelte Räume, auf Höhe der unten vorbeibrausenden Schnellstraße. Dort gibt es die Kaffeeküche, ­Toiletten, einen gekachelten Mehrzweckbereich sowie den gut gesicherten Serverraum, in dem Babak den größten Teil seiner Arbeitszeit verbringt.

Jetzt kommt er mit großen Schritten die Wendeltreppe herauf, einen Stapel Unterlagen in Händen, den er auf den Couchtisch fallen lässt. Während er nachdenklich daraufblickt, wischt er sich mit dem Unterarm über die Stirn. Sie kennen einander so gut, dass sie das „Hallo“ vergessen. Auch wenn sie sich täglich ein paar Stunden nicht sehen, haben sie niemals den Eindruck, getrennt zu sein. Als sie sich vor zwölf Jahren kennen lernten, war Babak fett, schwul, nerdig und aus dem Irak. Heute ist er nicht mehr fett, und für die anderen Dinge schämt er sich nicht mehr. Seiner Meinung nach hat Britta ihm das Leben gerettet, weshalb er sie vergöttert wie eine große Schwester. Wenn er aufgeregt ist, so wie heute, dann nicht, weil ihn die Ereignisse verwirren, sondern weil er sich Sorgen um Brittas Gemütszustand macht.

„Was hast du da?“

„Dossiers. Alle Informationen zum Fall.“

„In vierfacher Ausfertigung?“

„Eine für dich, eine für mich, eine für die Akten und eine für den Notfall.“

Britta muss lachen. Babak hat die ganze Nacht vor den Rechnern verbracht, sie erkennt es an den bläulichen Schatten unter seinen Augen, auch wenn er am frühen Morgen in der Praxis geduscht und ein frisches Hemd angezogen hat. Seit er sich von 125 auf 75 Kilo runtergehungert hat, behandelt er seinen Körper wie einen Wertgegenstand. Wenn er zum Essen kommt, kann er sich mit Richard stundenlang über skandinavische Herrenausstatter unterhalten, die hartnäckige Hipster-Mode verdammen und über die Form einer perfekten Schuhkappe philosophieren. Bei solchen Gelegenheiten hört Britta schweigend zu und erinnert sich daran, wie man Frauen einst dafür verspottete, kein anderes Thema als Mode zu kennen.

„Setz dich. Hier ist Kaffee.“ Babak bringt ein Tablett mit kleinen Tassen und einem Kupferkännchen, in dem er den Kaffee auf türkische Art zubereitet. Als er einschenkt, sieht Britta seine Hände zittern.

„Lass hören. Was hast du?“

„Markus Blattner und Andreas Muradow, 22 und 25 Jahre, Autoschlosser und Chemiestudent.“

„Tschetschene?“

„Deutscher. Der Name Muradow ist nicht selten.“ 

„Welcher ist tot?“

„Andreas.“

„Und welcher ist der Konvertit?“

„Wahrscheinlich keiner.“

„Das ist nicht dein Ernst.“

„Wie sich die Lage darstellt, können wir nicht von einem islamistischen Hintergrund ausgehen.“ 

„Hat sich Daesh nicht zu dem Anschlag bekannt?“

„Die bekennen sich doch zu jeder umgefallenen Gießkanne.“ 

Britta seufzt. „Die Fakten, bitte.“

„Gestern Abend drangen die beiden Männer ins Frachtterminal des Flughafens Leipzig ein, Sortierzentrum, gegen neunzehn Uhr.“

„Schichtwechsel?«„

„Das Frachtkreuz operiert auch tagsüber, aber nachts beginnt das Gewusel. Markus und Andreas trugen DHL-Uniformen und hatten gefälschte Dienstausweise bei sich.“

„Also doch professionell geführt.“

Babak zuckt die Schultern. „Oder euphorische Amateure.“

„Ich dachte, ich hätte im Fernsehen einen Gürtel gesehen.“

„Du hast dich nicht getäuscht. Beide trugen Gürtel.“

„Scheiße.“

Sie schweigen. Britta trinkt ihren Kaffee aus, Babak füllt nach, gibt noch etwas mehr Zucker hinzu, rührt für sie um. Natürlich hat sie die ganze Zeit ­gewusst, dass es sich bei der katastrophalen Aktion um ein Selbstmordattentat handelte. Ihr Bauchgefühl war eindeutig. Keine schweren Waffen, keine Gegenwehr. Aber sie waren zu zweit, Seite an ­Seite, das hatte ihr ein wenig Hoffnung gegeben. Die meisten Selbstmordattentäter gehen allein.

„Wir wussten, dass das eines Tages passieren würde, nicht wahr?“, sagt Babak, und Britta nickt.

„Es war nur eine Frage der Zeit. Wirklich schlimm ist es nicht.“

Britta nickt wieder. Dann wallt die Wut in ihr auf.

„Wer war das, verdammt?“ Sie schlägt beide Fäuste auf den Tisch, so dass die frisch gefüllte Kaffeetasse umfällt und den Inhalt der hübschen Zuckerdose in eine braune Masse verwandelt. Als sie bemerkt, dass Babak nicht die Treppe hinunterrennen muss, um die Sauerei zu beseitigen, sondern Lappen und Schwamm bereits unter dem Tablett bereit­liegen hat, lässt sie sich im Sessel zurücksinken.

„Du bist unmöglich, Babak.“

„Was denn?“ Er setzt seinen treuherzigen Blick auf. „Immerhin arbeiten wir mit Prognosen.“

Sie grinsen sich an. „Mach dir keine Sorgen“, sagt Babak. „Wir kriegen das in den Griff.“

Während er wischt, hebt sie das Tablett an. Obwohl die Dossiers keine Spritzer abbekommen haben, fährt Babak mit dem Küchentuch über die Schutzumschläge. Britta zieht ihr Exemplar zu sich heran. Biographien und seitenweise Metadaten, die sie mit bloßem Auge nicht lesen kann.

„Du warst gründlich.“ 

Ein kurzes Lächeln erscheint auf Babaks Gesicht und verschwindet gleich wieder, er will nicht zeigen, wie sehr er sich über ein Lob von ihr freut.

„Leider wenig Brauchbares dabei“, sagt er. „Kein Traffic bei den Gruppen, keine Videos, nichts in Vorbereitung. Andreas war seit ein paar Wochen auf Facebook aktiv, tatsächlich auch mit arabischen Kontakten, ein bisschen In schah Allah und al Hamdu lillah, dazu Berge von Emoticons. Der übliche Mist von Leuten, die die Sprache nicht können.“