Robert Harris: MÜNCHEN

Dramatische Stunden

23. November 2017
Herbst 1938: Die Konferenz von München entscheidet über Krieg oder Frieden. Bestsellerautor Robert Harris nutzt das Geschehen als perfekte Vorlage für einen Spannungsroman.

Es war einer jener Tage in der ­Geschichte, an denen der Lauf der Welt eine völlig andere Richtung hätte nehmen können: Bei einer kurzfristig anberaumten Konferenz Ende Sep­­tem­ber im Jahr 1938 unterzeichneten ­Hitler, ­Mussolini, der britische Premier­minister Chamberlain und der französische Premier Daladier in München ein Abkommen, das den Krieg abwendete – unter der Bedingung, dass die Tschechoslowakei das Sudetenland an Deutschland abtritt. Wäre es in jener Nacht zu keiner Einigung gekommen, hätte Hitler die sofortige Mobilmachung befohlen – und wäre vermutlich von einer Gruppe deutscher Offiziere gestoppt und womöglich exekutiert worden. 

Hinter den Kulissen der Konferenz steht ein Stoßtrupp bereit, um dem Hitler-Regime ein Ende zu machen. Doch das Münchner Abkommen macht den „Septemberverschwörern“ um die Militärs Ludwig Beck, Franz Halder sowie Politikern wie Erich Kordt und Hans von Dohnanyi, die den Putschversuch von langer Hand vorbereitet hatten, einen Strich durch die Rechnung. Hitler gilt nun als Bewahrer des Friedens; ein Rückhalt in der Wehrmacht und in der Bevölkerung für die Putschisten war ausgeschlossen.

Es waren dramatische Szenen, die sich in den Tagen vor und während der Münchner Konferenz abspielten – und Robert Harris nutzt sie als perfekte Vor­lage für „München“, seinen neuen Politthriller. Wieder einmal hat es der britische Bestsellerautor verstanden, historische Tatsachen und Erfundenes zu einem höchst packenden Roman zu verweben. 

Als gelernter politischer Journalist, der für die BBC und für den „Observer“ arbeitete, beherrscht er das Handwerk der Recherche und ein gelungenes Storytelling ohnehin aus dem Effeff. Zu großer Kunst wird es aber erst durch die Fantasie und vor allem das schriftstellerische Können, das dem 60 Jahre alten Briten wie nur wenigen Autoren gegeben ist. „Es bedarf tatsächlich genauso großer künstlerischer Anstrengung, aus Fakten Fiktion, also einen Roman, zu destillieren, wie etwas komplett zu erfinden“, sagte Harris in einem Interview mit der „Welt“.

Rückzugsort Pfarrhaus
Historische Stoffe haben Robert Harris immer schon fasziniert. Egal, ob in „Enigma“ (1995), in „Aurora“ (1998) oder in seiner brillanten Cicero-Trilogie (2006 – 2015) – immer wieder greift er historische Begebenheiten auf, lässt berühmte Persönlichkeiten auftreten und diese mit erfundenen Protagonisten zusammentreffen. Daraus spinnt Harris seine ebenso glaubhaften wie atem­beraubend spannenden Interpretationen des Geschehens. 

Vielleicht liegt die Rückbesinnung auf Vergangenes ja auch an dem geschichtsträchtigen Refugium, in dem Harris mit seiner Familie seit 25 Jahren wohnt: Inmitten eines prächtigen Gartens liegt das große alte Pfarrhaus, das er sich nach seinem ersten Erfolg „Vaterland“ 1992 kaufte. Hier lebt er zurückgezogen und ruhig – und doch nur eine Zugstunde vom Trubel der Londoner City entfernt.

Das Thema seines jüngsten Romans beschäftigt Robert Harris seit Jahrzehnten: Anlässlich des 50. Jahrestags der Münchner Konferenz war er 1988 an der Produktion einer BBC-Fernsehdokumentation beteiligt. Seither habe sich bei ihm „eine leichte Obsession für das Thema erhalten“, schreibt der Autor im Nachwort  von „München“. 

Für Chamberlain, der in der Geschichtsschreibung meist als feiger Appeasement-Politiker geschmäht wird, hegt Harris dabei einige Sympathien: Für ihn ist er ein Politiker, der den Frieden zwar um jeden Preis bewahren will, Hitler bei der Konferenz aber auch Paroli bietet, ihn bis aufs Blut reizt und ihm Zugeständnisse abtrotzt. Dreh- und Angelpunkt des Romans sind jedoch zwei Mitglieder der Delegationen: Chamberlains Sekretär Hugh Legat und der deutsche Diplomat Paul von Hartmann, die seit ihrem Studium in Oxford befreundet sind. Die beiden eint die Überzeugung, dass Hitler – allen Friedensbeteuerungen zum Trotz – den Krieg bereits plant. Und ihnen ist eines klar: Nur wenn es gelingt, Chamberlain von seiner Unterschrift unter das Münchner Papier abzuhalten, lässt sich der deutsche Diktator noch stoppen. 

Veritabler Spionagethriller
Konspirative Treffen, Verfolgungsjagden, in Toiletten versteckte Pistolen, geschmuggelte Geheimdokumente, Gestapo-Agenten und brutale SS-Männer: Vor der Kulisse der dramatischen Konferenz und des Nazireichs, das auf dem Höhepunkt seiner Macht ist, hat Robert Harris einen veritablen Spionagethriller geschrieben. Dabei gibt Harris nicht den Besserwisser, sondern schreibt aus der Perspektive der handelnden Personen, die den bevorstehenden Weltenbrand allenfalls erahnen. Hitler tritt als schlecht riechender und übel gelaunter Choleriker in Erscheinung, Chamberlain als unbeugsamer Kämpfer für den Frieden, der fest davon überzeugt ist, den „Führer“ gezähmt zu haben. 

So wirkt die Szene von Chamberlains Ankunft in London wie ein Menetekel: Unter dem Jubel der Menschenmenge liest der Premierminister die Friedensvereinbarung vor, das Blatt Papier in Ermangelung einer Brille weit auf Abstand haltend, „die schwarz gezackte Gestalt, den Arm ausgestreckt, im Zentrum eines großen hellen Lichts wie jemand, der sich in einen elektrischen Zaun gestürzt hat“.