J. Courtney Sullivan: ALL DIE JAHRE

Unauflöslich verbunden

28. Februar 2018
Bei Jane Austen sind Ihnen die Happy Ends zu spießig und Henry James erzählt für Ihren Geschmack zu weitschweifig? Wie gemacht für solche bibliophilen Notlagen: der Familienroman „All die Jahre“

Bisweilen entsteht viel Gutes, wenn Kinder ungehörige Dinge tun. J. Courtney Sullivan jedenfalls ist überzeugt, dass aus ihr keine Schriftstellerin geworden wäre, wenn sie einst brav im Bett geblieben statt heimlich unter den Tisch gekrochen wäre, um die Erwachsenen zu belauschen: „Mit sechs, sieben Jahren habe ich angefangen, Kurzgeschichten zu erzählen, die vor allem davon handelten, was ich beim Abendessen hörte“, erinnert sie sich mit einem verschmitzten Lächeln an ihre frühesten Inspirationserlebnisse. 

Heute, mit 35 Jahren, gilt Sullivan zu Recht als Spezialistin für emotional dichte Familien- und Gesellschaftsromane: Konfliktträchtige Beziehungsmuster spannt sie dabei auch über mehrere Generationen hinweg so geschickt auf, dass die Leserin immer den Überblick behält – und mühelos mitbekommt, warum wer wen liebt oder verachtet, belügt oder missversteht. 

Bereits bei „Sommer in Maine“, ihrem ersten auf Deutsch ­erschienenen Buch, schlug Sullivan gekonnt Funken aus einer altbekannten Erzähltechnik: dem Perspektivwechsel. „Ich liebe es, über Familie zu schreiben, weil vieles, was sich ereignet, von ­jedem Mitglied anders beschrieben wird“, erläutert sie. Nicht zufällig entsteht bei ihrem neuen Familienroman „All die Jahre“ letztendlich Verständnis für jede der beiden ungleichen Schwestern, die – wie einst die Urgroßeltern der Autorin – Ende der 1950er Jahre von Irland in die USA auswandern. Nora folgt mit 21 Jahren ihrem Verlobten nach Boston und nimmt die jüngere Theresa mit, um ihr dort eine Ausbildung zur Lehrerin zu ermöglichen. Doch die verantwortungsbewusste Nora scheitert in der Neuen Welt als Beschützerin, denn Theresa will sich amüsieren und fühlt sich zunehmend von ihrer älteren Schwester gegängelt. Es kommt zu ­einem tragischen Bruch, zu Jahrzehnten voll uneingestandener Selbstvorwürfe, umgemünzt in Anschuldigungen. 

Unheilvolle Geheimniskrämerei
„All die Jahre“ beginnt mit jener Nacht, als Nora, inzwischen eine Witwe von 73 Jahren, die Nachricht vom Tod ihres ältesten und liebsten Sohnes Patrick erhält – eine Nachricht, die auch Theresa zwingen wird, sich mit ihrem damaligen Verhalten als Mutter, mit der unheilvollen Wucht von Familiengeheimnissen neu auseinanderzusetzen. 

Gekonnt springt die Autorin zwischen den Zeitebenen hin und her, und je mehr die Handlung auf ihr dramatisches Finale zuläuft, desto nachsichtiger bewerten wir Theresas damalige Leichtfertigkeit und hinterfragen im Gegenzug die Opferbereitschaft Noras, die ihre eigenen Kinder später in einer Familie aufwachsen lässt, „in der die Wahrheit verspätet, zufällig, unter ­Alkoholeinfluss oder überhaupt nicht ans ­Tageslicht kommt“. 

So weit, so traurig? Im Gegenteil. Trotz ihrer unbestreitbaren Präferenz für zeitweise schwierige  Verwandtschaftsbeziehun­gen hat J. Courtney Sullivan nämlich bislang immer einen Roman vorgelegt, den man froh und hoffnungsvoll zuklappt. Und das liegt vermutlich zu einem beträchtlichen Teil daran, dass diese Schriftstellerin sich ausdrücklich als Feministin versteht. 

Der Umstand, dass sie schlicht „an die Gleichberechtigung von Männern und Frauen glaubt“, sorgt insofern für eine optimistische Grundstimmung, als Sullivans Bücher immer auch solide ­recherchierte Gesellschaftsromane mit Zeitkolorit sind: Sie entfalten nicht bloß die Nöte und Hoffnungen vielschichtiger weiblicher Figuren, sondern zeigen auch eindrucksvoll, wie viel seltener es Frauen noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts vergönnt war, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Was im Umkehrschluss bedeutet: Morgen kann die Welt noch besser aussehen. 

In bester Tradition 
Wer angloamerikanische Gesellschaftsromane grundsätzlich schätzt, aber schon immer ein bisschen genervt davon war, dass Henry James Seelennöte öfter mal weitschweifig mystifiziert und Jane Austens Heldinnen der Eheschließung allzu unkritisch ­gegenüberstehen, dürfte es besonders zu schätzen wissen, dass eine erfolgreiche Journalistin namens J. Courtney Sullivan inzwischen lieber unterhaltsame Bücher als Artikel verfasst.