Wolfram Fleischhauer: DAS MEER

"Die Welt ist aus den Fugen"

28. Februar 2018
Wolfram Fleischhauer erzählt in „Das Meer“ von der skrupellosen Ausbeutung der Ozeane. Ein fesselnder Roman und brisanter Ökothriller.

Wie sind Sie auf die Idee für Ihren Thriller gekommen?
„Das Meer“ ist der letzte in einer Reihe von drei Romanen über gesellschaft­liche Fragen. Die Welt ist aus den Fugen. Gier, Verdrängung und Verantwortungs­losigkeit haben ein Niveau erreicht, das einen sprachlos machen kann. Unsäg­liche Zustände haben mich schon immer gereizt, das Wort zu ergreifen, auf meine Art allerdings: erzählerisch.

Es geht um die skrupellose Ausbeutung der Meere – war für Sie gleich klar, dass Ihr Buch ein Thriller werden muss? 
Wenn mit „Thriller“ Spannung gemeint ist: Ja. Eine unspannende Geschichte könnte ich gar nicht erzählen. Wozu auch? Aber die Zutaten und das Personal sind bei mir anders als beim klassischen Thriller, der ja meistens mit absonderlichen oder pathologischen Figuren oder Verhaltensweisen operiert. Bei mir sind die Handelnden völlig normal, mitten unter uns – ja, sogar in uns. 

Wie nah kommen Sie in Ihrem Roman der Realität?
Ich fühle mich sehr dem Tatsachenroman oder der amerikanischen „Faction“-Tradition verpflichtet. Daher wende ich für meine Recherchen etwa doppelt so viel Zeit auf wie für das eigentliche Schreiben. Ein Roman ist aber keine Ansammlung von Fakten, sondern eine moralische Unternehmung, ein Akt der Sinnstiftung mit erzählerischen Mitteln.

Wir beklagen die Ausbeutung der Meere, doch tragen wir Verbraucher nicht eine große Mitschuld?  
Wer sonst? Der Verbraucher stimmt jeden Tag mit seinem Konsumverhalten darüber ab, ob diese Welt demnächst in Plastikmüll erstickt oder nicht oder ob der Thunfisch demnächst ausstirbt. 
Interview: Eckart Baier

Leseprobe

Die Fischerei-Beobachterin Teresa verschwindet spurlos auf hoher See. Auf einem Fischfangschiff sollte sie die Einhaltung der EU-Vorschriften überwachen. Ging sie im Sturm über Bord oder wurde sie aus dem Weg geräumt? Ihr ­Geliebter und Ausbilder John ist verzweifelt.

Der Anruf hatte ihn aus dem Schlaf gerissen. Die Stimme der Anruferin war absolut ruhig geblieben. Viertel vor sechs. Er sah nur den Namen auf dem Display und ahnte sofort, dass etwas Außergewöhnliches passiert sein musste. 

„Vivian?“ 

„John.“ 

„Yes?“ 

Allein die Art, wie sie seinen Namen gesagt hatte! 

„What happened“, fragte er mit einer Mischung aus Ungeduld und Furcht. „Warum rufst du mich in aller Herrgottsfrühe an?“ 

„Du weißt es also noch nicht?“ 

„Was denn, verdammt noch mal? Was ist los, ­Vivian?“ 

Die Stimme zögerte sicher nur einen Sekundenbruchteil. Oder lag es an der aufsteigenden Panik, dass sich alles um ihn herum verlangsamte? 

„Teresa wird vermisst.“ 

Er war mit einem Schlag hellwach. 

„Was?“, stammelte er. 

„Ich habe die Meldung gerade erst bekommen“, hörte er wie durch ein Rauschen. „Es ist irgendwann heute Nacht passiert. Es wird gerade eine Suchflotte zusammengezogen. Sobald sie Tageslicht haben, werden sie das Gebiet durchkämmen.“ 

Das Atmen fiel ihm auf einmal unendlich schwer. Er wollte etwas sagen, aber es gelang ihm nicht. Er saß einfach da, das Telefon am Ohr, und starrte fassungslos in das Zwielicht seines Schlafzimmers. 

„Ich fahre jetzt sofort ins Büro“, sagte sie. Er vermochte nicht, zu antworten. 

„John?“ 

„Ja“, keuchte er.

„Noch wissen wir nichts Genaues. Teresa ist eine erfahrene Beobachterin. Ich stehe mit allen Stellen in Kontakt und informiere dich sofort, sobald ich etwas erfahre. Du weißt, wo du mich findest.“ 

„Ja“, wiederholte er kaum hörbar. „Danke.“ 

„Bis nachher.“ 

Sie hatte aufgelegt. Er ließ die Hand sinken. Das Telefon fiel mit einem Knall auf den Holzfußboden. So musste es sein, wenn man einen Arm oder ein Bein verlor. In den ersten Sekunden spürt man keinen Schmerz. Nur eine dumpfe elementare Panik. Als er aufstehen wollte, begann er zu zittern. Er spürte etwas Warmes zwischen seinen Oberschenkeln. Er hastete ins Bad, schaffte es auf die Toilette, doch kaum saß er dort, wurde das Zittern noch schlimmer. Ein Kälteschauer nach dem anderen jagte ihm über den Rücken. Er keuchte. Sein Herz raste. Seine Brust hob und senkte sich wie fremd­gesteuert, als schlage jemand wie wild darauf ein. Teresa vermisst! Im Nordatlantik! Er stürzte zum Waschbecken und erbrach sich. 

Irgendwie schaffte er es, zu duschen und sich anzuziehen. Ein Gefühl von Taubheit und Unwirklichkeit umgab ihn. Alles schien beschlagen, gedämpft, unwahr. Er stand in der Küche, völlig durcheinander, ratlos. Ins Büro, dachte er. Ich muss sofort ins Büro fahren. 

Er taumelte ins Wohnzimmer und ließ sich auf der Couch nieder. Das Ungeheuerliche, Unfassbare war geschehen. Teresa vermisst. Er weinte. Die Minuten verstrichen. Allmählich wurde es hell. Ein grauer Novembertag. Das Rauschen des Brüsseler Berufsverkehrs drang gedämpft durch die Fenster. Er musste ins Büro. Vielleicht war die Meldung falsch? 

Er zog seinen Mantel an, griff nach seiner Aktentasche, verschloss die Wohnungstür. Alles schien wie immer. Für den Bruchteil einer Sekunde bildete er sich ein, nur geträumt zu haben. Aber als er in der Tiefgarage im Wagen saß, begann das Zittern erneut. Er fuhr vorsichtig die Rampe hinauf, wartete, bis das Rolltor scheppernd in der Decke verschwunden war, und fädelte sich in den Verkehr auf der Avenue Louise ein. 

Auf seiner Etage war alles still. Kaum jemand erschien hier vor neun Uhr, und es war gerade einmal kurz nach acht. Er ging den verwaisten Flur entlang, öffnete seine Bürotür, wusste jedoch plötzlich nicht mehr, was er hier sollte. Mechanisch machte er Licht und startete den Computer. Draußen hörte er plötzlich Schritte. Die Tür ging auf. Vivian Blackwood stand vor ihm. Seine Chefin war blass. Sekundenlang fiel kein Wort. Er wollte etwas sagen, aber seine Lippen zitterten zu sehr. 

Vivian schloss kurz die Augen und schüttelte den Kopf. „Es gibt noch keinerlei Gewissheit. Eine halbe Armada ist dort draußen und sucht nach ihr. Es …“ 

„Wie viele Stunden, Vivian?“, unterbrach er sie. „Wie viele?“

Sie erwiderte nichts. 

„Sechs? Sieben?“, beantwortete er seine Frage selbst. „Du weißt so gut wie ich, dass es nur Minuten dauert.“ 

„Wir werden jeden Stein umdrehen, John. Wir werden …“ 

Er hob die Hand und unterbrach sie erneut. 

„Danke, Vivian. Aber was immer wir tun, es wird sie nicht zurückbringen. Und was wir nicht getan haben …“ 

Die Stimme versagte ihm. Vivians Handy piepte zweimal, aber sie reagierte nicht. 

„Ich muss nach oben, John“, sagte sie dann. „Ich werde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um alle Informationen zu bekommen. Ich verspreche dir, es wird alles getan werden. Alles.“ 

„Danke.“ 

Sie ging zu ihm und umarmte ihn. Der Duft ihres Parfüms hüllte ihn ein. Ihre Wange, die sich kurz gegen die seine presste, fühlte sich unnatürlich kühl an. Sie löste sich wieder von ihm, ihre Hand suchte seine und drückte sie. Er ließ es geschehen. Vivian hatte ihn noch nie umarmt. Sie war ihm überhaupt noch nie näher gekommen als auf Schreibtischdistanz. Und jetzt hielt sie seine Hand. 

Würde es den ganzen Morgen über so weiter­gehen, wenn die anderen kamen und hörten, was geschehen war? Teresa, seine Freundin, vermisst. Vermutlich im Atlantik ertrunken.