Tony Parsons: IN EISIGER NACHT

Furchtbare Verbrechen

28. Februar 2018
Detective Max Wolfe ist der Albtraum jedes Mörders in der Millionenmetropole London.„In eisiger Nacht“, Band vier von Tony Parsonsʼ mitreißender Krimiserie, konfrontiert den­ Ermittler an einem frostigen Wintermorgen mit einem furchtbaren Verbrechen. 

Leseprobe

Wir befürchteten, es mit einer Bombe zu tun zu haben.

Deshalb war Chinatown wie ausgestorben. Wenn die Leute glauben, die Polizei hätte eine Leiche entdeckt, zücken sie ihre Handys und bringen sich in Stellung für einen guten Schnappschuss, aber sobald es heißt, wir hätten eine Bombe gefunden, suchen alle das Weite.

Der Lkw stand vor dem Dim-Sum-Restaurant auf der Gerrard Place, die den Beginn von Londons Chinatown markiert. Er parkte mit den Reifen links schräg auf dem Bürgersteig.

Der Lastwagen unterschied sich nicht von den Kolonnen anderer Lkws, die Stoßstange an Stoßstange die ganze eine Seite der Gerrard Place zuparkten, während sie ihre Frühmorgenlieferung zu den Geschäften und Restaurants von Chinatown brachten. Aber halb auf dem Bürgersteig und schräg geparkt, wirkte dieser Lkw hastig abgestellt, als hätte der Fahrer nichts anderes gewollt, als davon wegzukommen, und das lässt uns erstmal nur an eins denken.

Eine Bombe.

Ich hob das Absperrband mit der Aufschrift POLIZEI: DURCHGANG VERBOTEN und hielt es oben, weil eine Hundeführerin mit ihrem Bombenschnüffelhund sich hindurchduckte. Es war eine junge Beamtin in Uniform, schockierend entspannt, während ihr Hund, ein braun-weißer Springer Spaniel, an seiner Leine zog und es nicht abwarten konnte, endlich loszulegen.

„Braves Mädchen, Molly“, sagte die Hundeführerin, und wir alle sahen zu, wie die beiden sich dem Lkw näherten und Molly an der Karosserie des zurückgelassenen Lkws schnüffelte, als hätte sie eine langstielige Rose vor sich.

Ich hielt ihnen das Absperrband wieder hoch, als sie zurückkamen.

„Was denkt Molly?“, fragte ich.

„Molly denkt, es ist keine Bombe“, antwortete die Hundeführerin.

Ich kraulte die Hündin hinter den Ohren.

„Das genügt mir“, sagte ich.

Ich blickte zu einer schlanken Frau mit Brille. Sie stand neben einem bewaffneten Beamten, dessen Gesicht komplett hinter einem Gefechtshelm und einer Sturmhaube verschwand. Die Frau war meine direkte Vorgesetzte, Detective Chief Inspector Pat Whitestone. Bei dem Mann musste es sich um den Einsatzleiter der Antiterroreinheit handeln. Ich nickte, und DCI Whitestone hob grüßend ihren Kaffeebecher.

Jetzt war es unser Fall.

„Machen wir auf!“, rief ich und duckte mich unterm Absperrband durch.

Ein Feuerwehrmann von der Wache auf der Shaftesbury Avenue schloss sich mir an. Nebeneinander gingen wir auf den Lkw zu. Der Feuerwehrmann grinste mich an. Seine ­Augen waren vor Müdigkeit ganz trüb. Ich vermutete, dass er die Nachtschicht hinter sich hatte und im Dienst geblieben war. Auf einer ­Schulter trug er ­einen rotlackierten Bolzenschneider von über einem ­Meter Länge, und als wir den Lastwagen erreichten, schwang er das Werkzeug herunter und setzte die Stahl­backen an dem rostroten Bügelschloss an, das die ­Ladetüren im Heck zusammenhielt.

Er sah mich wieder an, nickte kurz und drückte mit aller Kraft die Hebel zusammen.

Das billige Schloss gab beim ersten Versuch auf.

Beide packten wir einen Türflügel und zogen ihn auf.

Ich starrte in Dunkelheit, und als Erstes bemerkte ich die Kälte. Die Temperatur auf der Straße bewegte sich im niedrigen einstelligen Bereich, aber im Laderaum dieses Lkws lag sie irgendwo unter dem Gefrierpunkt.

Ich stieg hinein, als ich ein bisschen mehr erkannte.

Und im gleichen Augenblick sah ich die Frauen.

Zwei Reihen von ihnen, die Gesichter einander zugewandt, die Rücken an die Seitenwände des Lasters gepresst.

Alle jung, alle reglos. Keine von ihnen hatte sich bewegt, als wären sie auf dem Platz gestorben, auf dem sie saßen. Eine dünne Frostschicht überzog ihre Gesichter. Einige von ihnen hatten die Augen offen. Einigen hing Eis von Mund, Nase und Wimpern. Eis klebte, wo immer Feuchtigkeit gewesen war.

Mir stockte der Atem.

Einigen waren die Kleider vom Leib gerissen worden. In dem Laderaum des eiskalten Lastwagens roch es nicht nach Tod, und doch umgab er mich.

Ich merkte, wie ich nach vorn sank, als hätte ich einen Schlag in den Magen bekommen. Dann richtete ich mich auf und kehrte auf die Straße zurück.

„Wir brauchen hier drin Hilfe!“