Robert Seethaler: DAS FELD

Was vom Leben bleibt

13. Juni 2018
Was macht uns aus? An was werden wir uns bis zuletzt erinnern? In seinem berührenden neuen Roman „Das Feld“ lässt Robert Seethaler 29 Tote von ihrem unerhört alltäglichen und einzigartigen Leben erzählen.

Robert Seethaler ist niemand, der es sich leicht macht – im Gegenteil. Wer sich auch nur ein wenig mit seiner Biografie befasst hat, könnte den Eindruck gewinnen, dass er es sich gelegentlich sogar besonders schwer macht. Immerhin beschließt er als junger Mann, Schauspieler zu werden, obwohl es ihm davor graut, im Rampenlicht zu stehen, obwohl er auf der Bühne vor Scham oft fast umkommt. Und dann, als bereits erfolgreicher Theater- und Fernsehschauspieler, tauscht er nach und nach das Spielen gegen das Schreiben ein. Und wieder quält er sich. Die Sprache scheint sich zu sträuben. Er ist überzeugt, dass es ihm an „Eloquenz“ fehlt, dass er mehr „zimmert“ und „schnitzt“, als dass ihm die Texte aus der Feder fließen. Also dreht er jeden Satz wieder und wieder um, bis er damit den Bildern, die er sieht, so nah wie möglich kommt. Der Erfolg stellt sich trotzdem ein oder gerade deshalb. Bereits sein 2012 erschienener Roman "Der Trafikant" wird zum Bestseller, und mit „Ein ganzes Leben“ (2014) gelingt dem Österreicher, was bisher erst zwei deutschsprachigen Autoren vor ihm gelungen ist: Er wird für den Man Booker International Prize nominiert. 

Nun hat der 51-Jährige einen neuen Roman geschrieben, und wieder ist es einer, der ungeheuer wahrhaftig, komprimiert, ohne Schnörkel und Zierrat, dem Essenziellen des menschlichen Lebens nachspürt. Hatte Seethaler sich in seinem vorigen Roman noch auf das Leben eines einzelnen Menschen konzentriert, des stoischen Bergbauern und Tagelöhners Andreas Egger, den er von der Geburt bis zum Tod begleitet, macht er es sich in „Das Feld“ nun noch ungleich schwerer. Und wie bei diesem Autor nicht anders zu erwarten, ist das Ergebnis noch ungleich beeindruckender. 

Diesmal nimmt er sich auf dem Raum eines vergleichs­weise schmalen Romans gleich 29 Leben vor: 29 Tote flüstern uns, auf oft nur vier oder fünf Seiten, ihre kostbarsten, ihre wesentlichsten Erinnerungen zu. Alle haben sie in der gleichen kleinen Stadt gewohnt, im fiktiven Paulstadt, sodass auch viele ihrer Erinnerungen miteinander verbunden sind. Manche haben einander zu Lebzeiten geliebt, andere gehasst, wieder andere ­haben sich betrogen, verachtet, bewundert oder auch einfach nur übersehen. All diese Stimmen zusammen bilden einen Chor, der, einem eigenständigen Wesen gleich, von der erschütternden Einzigartigkeit des Lebens erzählt und davon, wie den Toten nach und nach auch noch das abhandenzukommen droht, was sie zu retten geglaubt hatten: ihr Wertvollstes – die Erinnerung an das, was war, was sie waren.

„Die Rückschau auf das Leben hat mich schon immer interessiert“, gesteht Robert Seethaler im Interview: „Was bleibt davon, was bleibt von ­einem Menschen? Was wird aus seinen Erinnerungen?“ Sein jüngster Roman nähert sich der Antwort auf diese Frage wieder ganz und gar see­thalerisch. Wie schon in seinen früheren Büchern sind es auch in „Das Feld“ weniger die un­erhörten, außergewöhnlichen Vorkommnisse, die seine Helden prägen, sich ihnen tief und nachhaltig einprägen, sondern eher die auf den ersten Blick alltäglicheren, dabei aber intensiveren Momente: etwa die zärtlichen Berührungen eines nahen Menschen, wenn das Ende des Lebens in Sicht­weite ist. Das Gefühl von Demütigung, nach einem Kampf unter Jungs, wenn von einem Moment zum anderen klar wird, dass es vermutlich immer die anderen sein werden, die die Siege davontragen, oder der Anblick der Geliebten, die im Zimmer umhergeht, und alles an ihr erscheint auf einmal gleichermaßen hin­reißend: „Ihr Gesicht. Ihre Hände. Ihre Bewegungen“. 

Keiner, der diesen bestürzend schönen Roman gelesen hat, wird sich darüber wundern, was Robert Seethaler antwortet auf die Frage, was die Toten den Lebenden möglicherweise an ­Wissen voraushaben: „Vielleicht dies: Die Fülle eines Lebens hängt nicht von Erlebnissen ab, sondern vom Erleben.“ Und wie ungeheuer intensiv sich Literatur erleben lässt, zeigt er nun ein weiteres Mal mit „Das Feld“.