Karen Cleveland: WAHRHEIT GEGEN WAHRHEIT

Opfer oder perfekter Lügner?

13. Juni 2018
Sie hat vier Kinder, einen großartigen Ehemann und einen spannenden Job. Vivian ist rundum glücklich – bis zu jenem Tag, an dem die CIA-Spionageabwehranalystin ein Netzwerk ­russischer Spione knackt. Sie stößt auf ein Foto, das ihr Leben zerschmettert.

Es gibt Beziehungen, in die sich Zweifel und Misstrauen wie eine bösartige Krankheit schleichen. Und es gibt solche, deren perfektes Glück von einer Sekunde auf die andere zerstört wird. Solch ein Moment ist der Dreh- und Angelpunkt von Karen Clevelands furio­sem Thriller „Wahrheit gegen Wahrheit“: Zehn Jahre lang glaubt Vivian, mit Matt das große Los gezogen zu haben. Schon an jenem Tag, als sie ihn bei ihrem Umzug nach Washington kennenlernt – sie rempelt ihn versehentlich an und bekleckert ihn von oben bis unten mit Kaffee –, weiß sie, dass sie ihn einmal heiraten wird. Nach zehn Jahren Ehe kann sie sich keinen liebevolleren Mann, keinen besseren Vater für die vier gemein­samen Kinder vorstellen. Er ist klug, zupackend und verständnisvoll, sie kann mit ihm über alles reden – außer über ihren streng geheimen Job als Spionageabwehranalystin bei der CIA. Vivians Aufgabe ist es, ein russisches Spionagenetzwerk zu enttarnen und „Schläfer“ ausfindig zu machen, die in den USA unauffällig, als unbeschol­tene Bürger leben, doch für die Russen arbeiten. Als es Vivian ­gelingt, in den Rechner eines russischen Agenten einzudringen, entdeckt sie dort fünf Fotos von „Schläfern“. Sie klickt auf das dritte Bild. „Eiskalte Finger legen sich um mein Herz und drücken zu, und ich höre nur noch mein Blut in den Ohren rauschen.“ Auf dem Bildschirm erscheint das Foto ihres Ehemanns. Was nun folgt, ist eine Achterbahn der Gefühle – und ein Thriller, der den Leser mit Haut und Haaren verschlingt. Weil Matt ganz anders ­reagiert, als Vivian erwartet, steht sie – die geschworen hat, ihr Land gegen innere und äußere Feinde zu schützen – vor einer schier unlösbaren Aufgabe: Soll sie den Mann, den sie liebt, den Behörden ausliefern? Glaubt man ihr, dass sie von alldem nichts ­gewusst hat? Was geschieht mit den Kindern? Oder ist Matt vielleicht doch der perfekte Lügner?

Eckart Baier


Noch nie hat Vivian ihren Mann mit vertraulichen CIA-Informationen konfrontiert. Doch heute ist alles anders. Am Abend ihrer schockierenden Entdeckung fragt sie ihn: „Wie lange arbeitest du schon für die Russen?“ Matt verzieht keine ­Miene, zuckt nicht mit der Wimper. Wartet einen Moment zu lange mit der Antwort, aber nur einen klitzekleinen. „Zweiundzwanzig Jahre.“ 

Leseprobe

Es reißt mir den Boden unter den Füßen weg. Es ist, als fiele ich, wild rudernd, ins vollkommene Nichts, und es kommt mir vor, als schaute ich mir selber dabei zu, beobachtete mich, ganz unbeteiligt, denn es passiert nicht mir, sondern jemand anderem, es passiert eigentlich gar nicht. Ich habe ein Klingeln in den Ohren, einen seltsam blechernen Ton.

Mit einem Geständnis hatte ich nicht gerechnet. Eigentlich hatte ich ihn mit dieser ungeheuerlichen Anschuldigung, dem Vorwurf des schlimmstmöglichen Verrats, aus der Reserve locken wollen. Ihn herausfordern. Ihn dazu bringen, sich eines harmloseren Fehltritts schuldig zu bekennen. Es gab da mal ein Treffen, dachte ich, würde er sagen. Aber ich schwöre dir, Viv, ich arbeite nicht für sie. Oder rechtschaffene Empörung. Wie kannst du so was auch nur denken?

An ein Geständnis habe ich keine Sekunde gedacht. 
Zweiundzwanzig Jahre. Ich konzentriere mich auf diese Zahl, weil sie etwas Greifbares ist, etwas Konkretes. Siebenunddreißig minus zweiundzwanzig. Da wäre er gerade fünfzehn gewesen. In Seattle, auf der Highschool.
Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn.
Mit fünfzehn hat er Baseball gespielt. Trompete in der Schulband. In der Nachbarschaft Rasen gemäht, um sich was zum Taschengeld dazuzuverdienen. 
Ich verstehe das nicht. Zweiundzwanzig Jahre. 

Ich drücke die Fingerspitzen gegen meine Schläfen. Dieses Klingeln in den Ohren will und will nicht aufhören. Es ist, als säße da etwas. Eine Einsicht, eine Erkenntnis, so grauenhaft, dass ich nicht erfassen und verstehen, nicht anerkennen kann, dass sie wirklich wahr ist. Weil sonst meine ganze Welt in sich zusammenstürzen würde.
Zweiundzwanzig Jahre.
Mein Algorithmus sollte mich zu einem russischen Agenten führen, der Schläfer in den USA betreut.
Zweiundzwanzig Jahre.
Und dann geht mir eine Zeile aus einem alten internen Papier durch den Kopf. Sie rekrutieren sogar Jugendliche, manche nicht älter als fünfzehn.

Ich schließe die Augen und presse die Hände noch fester gegen die Schläfen.
Matt ist nicht der, der er zu sein behauptet.
Mein Mann ist ein russischer Geheimagent. 

Ein glücklicher, unmöglicher Zufall. So habe ich unser Kennenlernen damals erlebt. Eine Szene wie ­aus einem Film. Es war der Tag, an dem ich nach Washington gezogen bin. Ein Montagmorgen im Juli. Bei Tagesanbruch war ich in Charlottesville losgefahren, meine Siebensachen in meinen Accord gequetscht. (…)

„Viv.“
Ich blinzele, und die Erinnerungen verschwinden. Schlagartig. Ich höre Fetzen des Monstertruck-Titelsongs aus dem Wohnzimmer. Gebrabbel. Spielzeuge, die aneinandergeschlagen werden. Plastik auf Plastik.
„Viv, schau mich an.“ Jetzt sehe ich sie. Die nackte Angst. Sein Gesicht ist alles andere als ausdruckslos. Er hat die Stirn in Falten gelegt, tiefe Furchen, wie er sie immer bekommt, wenn er sich Sorgen macht. So tief wie jetzt waren sie noch nie.

Er beugt sich über den Tisch zu mir und legt eine Hand auf meine. Ich weiche aus, verschränke die Hände im Schoß. Er wirkt ehrlich erschrocken. „Ich liebe dich.“

Aber ich kann ihn nicht ansehen, kann diesen durchdringenden Blick gerade nicht ertragen. Stur schaue ich auf den Tisch. Da ist ein Strich von einem roten Filzstift, ein ganz kleiner. Den starre ich an. Die Farbe ist ins Holz eingedrungen, eine Narbe von einem Malprojekt der Kinder, irgendwann vor Ewigkeiten. Warum ist dieser Strich mir noch nie aufgefallen?

„Das ändert nichts an meinen Gefühlen für dich. Ich schwöre bei Gott, Viv. Du und die Kinder, ihr bedeutet mir alles.“

Die Kinder. O Gott, die Kinder. Was soll ich denen sagen? Ich schaue auf, mein Blick geht zum Wohnzimmer, obwohl ich sie von hier gar nicht sehen kann. Ich höre, wie die Zwillinge miteinander spielen. Die beiden Älteren sind still, vermutlich in ihre Fernsehsendung vertieft. 

„Wer bist du?“, flüstere ich. Ich will gar nicht flüstern, tue es unwillkürlich und weiß selbst nicht, warum. Als wollte meine Stimme mir nicht mehr gehorchen.

„Ich bin ich, Viv. Das schwöre ich dir bei Gott. Du kennst mich.“

„Wer bist du?“, frage ich noch mal, und dann bricht meine Stimme. 

Mit Augen groß wie Untertassen und sorgenvoll zerfurchter Stirn sieht er mich an. Durchdringend starre ich zurück. Versuche, den Ausdruck in seinen Augen zu deuten. Weiß aber nicht, ob ich das überhaupt kann. Oder jemals konnte?

„Ich wurde in Wolgograd geboren.“ Er redet leise, aber gefasst und ohne zu stocken. „Damals hieß ich Alexander Lenkow.“

Alexander Lenkow. Das kann doch alles nicht wahr sein. Das muss ein Traum sein. Ein Albtraum. Ein schlechter Film, ein Spionagethriller. Alles, nur nicht mein Leben. Ich konzentriere mich wieder auf den Tisch. Da ist ein kleines Sternenbild, wo eins der Kinder mit der Gabel draufgehauen hat. 

„Meine Eltern hießen Michail und Natalia.“

Michail und Natalia. Nicht Gary und Barb. Meine Schwiegereltern, von meinen Kindern Omi und Opa genannt. Ich starre auf die Einkerbungen im Tisch, die klitzekleinen Macken, wie eine Miniaturkraterlandschaft.

„Sie sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als ich dreizehn war. Ich hatte sonst keine Verwandten. Also kam ich in staatliche Obhut. Ein paar Monate später wurde ich nach Moskau verfrachtet. Mir war damals gar nicht klar, was mit mir passierte. Aber sie haben mich in ein Programm des SWR gesteckt.“

Als ich mir Matt als verängstigten kleinen Waisenjungen vorstelle, der gar nicht weiß, wie ihm geschieht, bekomme ich Mitleid. Aber das verfliegt schnell wieder beim Gedanken an diesen ungeheuren Verrat.