Wenn eine tatkräftige 18-Jährige behauptet, plötzlich den eigenen Traumberuf zu kennen, sollte das ernst genommen werden – selbst wenn sie im New York der 1940er Jahre etwas extrem Gefährliches, für Frauen schier Unerreichbares vorhat. Anna Kerrigan, Heldin von „Manhattan Beach“, weiß plötzlich, was „sie sich schon immer gewünscht hatte“: Marinetaucherin zu werden. Seit ihr Vater, der Schmiergelder überbrachte und auch mit der Mafia zu tun hatte, unter mysteriösen Umständen verschwunden ist, muss Anna für ihre Mutter und die schwerbehinderte Schwester sorgen. Doch sie hasst ihren monotonen Hilfsjob in der Fabrik, wo sie Teile für Schlachtschiffe zu prüfen hat. Viel lieber will sie diese Kolosse unter Wasser reparieren, will sich in Lebensgefahr begeben, um so den „wilden, erratischen Puls des Krieges“ zu spüren. Schon als Kind fühlte Anna beim Anblick des Meeres eine „elektrisierende Mischung aus Furcht und Verlockung“.
Es ist tatsächlich eine reine Männerdomäne, in die Jennifer Egan ihre draufgängerische und zugleich sensible Hauptfigur vordringen lässt: „Ich kann mit ziemlicher Sicherheit behaupten, dass es keine Marinetaucherinnen gab. Viele Dinge, die unter normalen Umständen niemals hätten passieren können, waren im Krieg plötzlich nicht nur möglich, sondern notwendig.“
Vom Meeresboden in den Nachtclub
Länger als zehn Jahre hat Jennifer Egan an „Manhattan Beach“ gearbeitet, hat Zeitungsartikel, Fotos und Briefe gesichtet, hat Veteranen interviewt – und sogar selbst einen der extrem schweren damaligen Taucheranzüge anprobiert, bei denen allein die Schuhe 18 Kilo wogen. Und wieder einmal hat es die Pulitzer-Preisträgerin verstanden, gründliche Recherchen in lebenspralle, elektrisierende Szenen zu verwandeln.
Vor der Kulisse der pulsierenden Stadt New York, die stärker von den Folgen des Börsencrashs und der Prohibition geprägt scheint als vom noch andauernden Krieg, teilt die Leserin Annas unbändige Freude, sich auf dem Grund der Bucht plötzlich schwerelos zu fühlen. Man meint, den Lärm auf dem Marinewerft-Gelände zu hören: die Motoren der Kräne, Züge und Lastwagen, das Gebrüll der Arbeiter und das Kreischen vom Zerteilen des Stahls.
In den Absteigen der Bronx dagegen, wo die Schieber, Wucherer und Kleinganoven illegale Geschäfte abwickeln, riecht es nach dem Sägemehl des Boxrings, in dem verschobene Kämpfe ausgetragen werden. Und so deutlich wie bei einem ausstattungsstarken Hollywoodfilm hat man die Glitzerwelt jenes Nachtclubs vor Augen, wo Anna dem Gangster Dexter Styles wiederbegegnet: das Orchester, den Springbrunnen, den Fußboden mit Schachbrettmuster und diese roten Tische, an denen elegant gekleidete Paare erhitzt flirten und blassgoldener Champagner in Annas Glas zischt.
Im Unterschied zu ihrer Freundin Nell, die nur auf den allabendlichen Nachtclub-, Kino- oder Restaurantbesuch hinzuleben scheint, will Anna die Männer weniger mit Sexappeal, sondern eher mit Mut und Zähigkeit beeindrucken: Gefährlicherweise gelingt ihr bei dem Mafiaboss Dexter Styles, dem sie vor Jahren zusammen mit ihrem Vater in Manhattan Beach auf Coney Island erstmals begegnete, beides.
Verschwiegen und emanzipiert
Mit Anna hat „Manhattan Beach“ eine charismatische Hauptfigur, die sich nicht leicht durchschauen lässt: „Das Wichtigste, was ich über Anna herausfinden musste, war ihre Verschwiegenheit – ein wesentliches Merkmal ihrer Stärke“, sagt Egan über ihre Heldin. Mit einer modern anmutenden, draufgängerischen Entschlossenheit geht Anna in schwieriger Zeit ihren unkonventionellen Weg – der sie als erste Marinetaucherin bis auf den Meeresgrund führt. Im wahrsten Sinn des Wortes: ein Pageturner mit Tiefgang. Emma Fuchs