Erin Hunter: BRAVELANDS. DAS GESETZ DER SAVANNE

Das Gesetz der Savanne

7. November 2018
In Band 2 von „Bravelands“ wird die Ruhe in der Savanne durch ein furchtbares ­Ereignis erschüttert. Große Mutter, die weise Anführerin der Tiere, ist brutal ermordet worden. Wer kann an ihre Stelle treten? Nicht nur der Pavian Dorn und der Löwe Heldenmut machen sich ­große Sorgen. Auch das Elefantenmädchen Aurora spürt die Gefahr.

Leseprobe

Trauer und Furcht schnürten Aurora den Hals zu. Was soll ich ohne sie nur machen?
Sie schlug die Augen auf und sehnte sich plötzlich nach der Gesellschaft ihrer Familie. Die Erwachsenen waren ganz in der Nähe. Sie hatten sich am Rand der Wasserstelle zusammengedrängt, die Hinterteile dem peitschenden Regen zugewandt. Dann und wann berührten sie einander in ihrer Trauer.
Doch mitunter sahen sie auch zu ihr hinüber. Regen, die neue Stammesälteste, schwenkte ihren gefleckten Rüssel und sprach leise mit Komet. Das verunsicherte Aurora.
Ein kleiner Rüssel stupste sie an der Schulter. Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Hallo Mond“, brummte sie zärtlich.
Ihr kleiner Cousin drückte sich an sie. „Aurora, was machst du da?“
Sie seufzte. „Ich bleibe bei Großer Mutter. Ich möchte sie nicht allein lassen.“
Mond schlang seinen Rüssel um den ihren. Eine Welle von Zuneigung ergriff sie – er wollte sie auf die gleiche Weise trösten, wie sie ihn tröstete, wenn er sich wehgetan hatte oder wenn er traurig war.
„Wenn nur der Regen endlich aufhören würde“, murmelte er.
Aurora blickte zu den dunklen Wolkenbergen hinauf. Der Regen peitschte in ihr Gesicht und brannte in ihren Augen. „Ich glaube nicht, dass wir so bald damit rechnen können“, sagte sie leise.
„Wenn die Sonne hervorkommt …“, sagte Mond zögernd, „wird Große Mutter dann wieder aufwachen?“
„Ach, Mond.“ Aurora streichelte seinen Rüssel. „Sie wird nicht wieder aufwachen. Sie ist zu den Sternen zurückgekehrt.“
Mond wimmerte leise. „Ist der Große Geist mit ihr gegangen?“
Aurora spürte einen kalten Schauer, der nichts mit dem Regen zu tun hatte. Es fiel ihr schwer, auf diese Frage zu antworten. Schließlich schluckte sie und flüsterte: „Wenn ich das wüsste.“
Durch die grauen Nebelschleier sah Aurora eine nahe gelegene Bucht, wo sich eine Zebraherde aufhielt. Die Tiere waren nach dem Tod der Großen Mutter in Panik ausgebrochen und liefen immer noch unruhig hin und her. Ihr Anführer, ein großer Zebrahengst mit wild geschwungenem Streifenmuster, erstarrte plötzlich und spitzte seine Ohren. Auf sein warnendes Schnauben hin hoben die anderen Zebras die Köpfe und gaben wiehernde Laute von sich. Sie starrten auf einen Punkt hinter den Elefanten.
Aurora holte Luft und drehte sich um. Eine Herde von vielleicht zwanzig riesigen Tieren mit grauer Lederhaut kam mit donnerndem Stampfen auf die Wasserstelle zu. Ihr Anführer hatte sein Maul weit aufgerissen und entblößte furchterregende große, stumpfe Zähne.
Flusspferde! Sie galten als gefährlich und jähzornig. Große Mutter hatte Aurora immer ermahnt, Abstand zu ihnen zu halten.
„Komm, Mond“, sagte sie und scheuchte ihn behutsam zur Familie zurück.
Auch die Erwachsenen hatten die Flusspferde gesichtet, und als Aurora und Mond sich in ihre Mitte drängten, bildeten sie mit ihren Körpern einen schützenden Wall um sie.
„Ihr Jungen bleibt hier“, sagte Regen.
Die Flusspferde hatten sie fast erreicht, und Aurora duckte sich erschrocken, doch schon polterten sie an der Elefantenherde vorbei, verlangsamten ihre Schritte, ­näherten sich mit traurigem Grunzen dem Leichnam der Großen Mutter und bildeten einen ehrfürchtigen Kreis um sie. Ein Flusspferd mit ungewöhnlich großen Ohren und einem grau-rosa gefleckten Gesicht, offenbar der ­Anführer, berührte mit seinem breiten Maul die Stirn der Großen Mutter. Seine Herde sah ihm schweigend zu.
„Es ist also wahr“, sagte er schließlich und hob seinen Kopf. Seine kleinen Augen funkelten zornig. „Die Grasfresser hatten recht.“ Er legte den Kopf in den Nacken und ließ ein lautes Stöhnen hören. Die anderen Flusspferde stimmten mit zornigem, traurigem Gebrüll in seine Klage ein.
„Ermordet!“ Der Schrei des Anführers übertönte alle anderen Stimmen. „Die Krokodile haben es gewagt, Große Mutter zu ermorden!“
Mond klammerte sich mit dem Rüssel an Auroras Schwanz. „Was werden sie tun?“
„Ich weiß es nicht.“ Auroras Herz klopfte laut. Sie ahnte, dass etwas Schreckliches passieren würde.