Kate Morton: DIE TOCHTER DES UHRMACHERS

Verhängnisvoller Sommer

26. November 2018
Was geschah vor 150 Jahren auf Birchwood Manor? In ihrem Roman „Die Tochter des Uhrmachers“ reist die australische Starautorin wieder durch die Zeiten und verwebt dunkle Geheimnisse und berührende Lebensgeschichten zu einem fesselnden Ganzen.

Birchwood Manor ist ein traumhaftes Anwesen: ein Landhaus in Oxfordshire mit nahezu magischer Atmosphäre, in der Nähe der Themse gelegen. Für ihre neue Zeitreisegeschichte hat sich Kate Morton wieder einen zentralen Schauplatz mit interessanter Vergangenheit ausgedacht: 1862 verbrachten dort Künstler einen Sommer; später wurde das Anwesen zu einem Mädchen­internat, bot dann einem Mann Zuflucht, der als Soldat den Ersten ­Weltkrieg überlebt hatte, und anschließend einer Familie, deren Londoner Wohnung durch die Luft­angriffe des Zweiten ­Weltkriegs zerstört worden war. In der Gegenwart des Romans ist Birchwood Manor ein Museum – und beherbergt für ein paar Tage einen Mann, der ein 150 Jahre altes Geheimnis lösen will.

Dieses Geheimnis ist der Angelpunkt von Kate Mortons neuem Roman: Was geschah 1862 tatsächlich, als die Künstler den Sommer auf Birchwood Manor verbrachten? Sicher ist, dass am Ende eine Frau erschossen wurde und eine andere spurlos verschwand: die Titelfigur Birdie Bell, die Tochter des Uhrmachers. Wer aber hat geschossen, und ist Birdie mit dem kostbaren Edelstein, der ebenfalls unauffindbar blieb, nach Amerika geflohen?

Es sind ganz unterschiedliche Lebensgeschichten aus unterschiedlichen Zeiten, die in diesem Roman ineinanderfließen – und Kate Morton, die mit ihrer zarten Aura selbst wie eine Zeitreisende wirkt, verwebt sie zu einem fesselnden Ganzen. Neben Birdie spielt die Schwester eines der Künstler eine Hauptrolle, die ebenfalls den Sommer 1862 auf Birchwood Manor verbrachte und später dort das Mädcheninternat gründete. Ebenso Elodie, eine junge Londoner Archivarin. 2017 kommt sie den Lebensrätseln ihrer Mutter auf die Spur, die bei einem Autounfall starb: eine brillante Musikerin, in deren Schatten die Tochter immer noch lebt.

Spurlos verschwunden

Mit Elodie beginnt der Roman, Birdie aber ist dessen Stimme und Herz. Die Tochter des Uhrmachers erzählt von Birchwood Manor, dem Haus, das all die Geschichten verbindet, und sie erinnert sich an ihr Leben bis zu dem Zeitpunkt, als sie einen der Künstler nach Oxfordshire begleitete. Vorher war sie als Diebin in London unterwegs. Es war eine bittere Kindheit, wie von Charles Dickens erzählt, bis sie einen Maler kennenlernte und sich in ihn verliebte. Ein Happy End zeichnete sich ab, dann aber verschwand Birdie in jenem verhängnisvollen Sommer des Jahres 1862.

Rätsel der Vergangenheit

Die Australierin Kate Morton hat wie viele ihrer Landsleute eine Passion für Großbritannien. Dort hielt sie sich auch auf, als sie „Die Tochter des Uhrmachers“ schrieb – und der Roman wurde eine Liebeserklärung an Oxfordshire, an die Landschaften dort, die Themse und die alten Häuser, die Pate standen für Birchwood Manor.

Ihre Faszination für die Vergangenheit habe viel damit zu tun, dass ihre Mutter Antiquitätenhändlerin war, sagt Kate Morton. „Ich war sehr oft in ihrem Laden, habe es geliebt, die Stücke in die Hand zu nehmen, eine Brosche oder eine Teetasse, und denen nachzusinnen, denen die Objekte früher einmal gehört haben.“ Flohmärkte und Wohnungsauflösungen haben ebenfalls ihren Anteil daran, dass Kate Mortons Romane nicht nur spannend und unterhaltsam sind, sondern nachdenklich stimmen.

Gegenstände, deren Vergangenheit es zu enträtseln und die es mit der Gegenwart zu verbinden gilt, sind auch für ihren neuen Roman wichtig: eine Ledertasche, die Elodie in einem Archiv in London aufstöbert, die Sepiafotografie einer faszinierenden Frau und die Zeichnung eines Hauses an einem Fluss. Zu diesem Zeitpunkt weiß sie noch nicht, dass es Birchwood Manor ist. Sie hat das Anwesen nie gesehen, und doch kommt es ihr bekannt vor: aus den Geschichten, die ihre Mutter erzählte, als Elodie noch ein Kind war.

Was haben Menschen in der Vergangenheit erlebt, wie gingen sie damit um, und was ist von ihnen geblieben? Das sind die Fragen, die Kate Morton beschäftigen, und noch deutlicher als in ihren bisherigen Romanen befasst sich Australiens erfolgreichste Autorin in ihrem neuen Buch mit der Zeit – und mit Uhren, die sie messen, ohne etwas an der Vergänglichkeit ändern zu können: „Als ich diesen Roman schrieb, war der Gedanke immer besonders präsent, dass das Leben kostbar ist“, sagt sie, „und dass es darum geht, Schönheit und Wahrheit in jedem Moment zu sehen.“

„Die Tochter des Uhrmachers“ ist Mortons bisher komplexester Versuch, in verschiedenen Zeiten unterwegs zu sein. Er ist gelungen: mit außergewöhnlichen Lebensgeschichten und einem Haus, in dem man selbst gern einen Sommer lang aus der Zeit fallen möchte.