Stephen Hawking: KURZE ANTWORTEN AUF GROSSE FRAGEN

"Seid tapfer und neugierig"

28. November 2018
In seinem letzten Buch widmet sich der Physiker und Kosmologe Stephen Hawking auf sehr persönliche Weise den drängenden Fragen der Menschheit und unserer Zeit.

„Wenn Sie mit einem frühen Tod rechnen müssen, wird Ihnen klar, dass Sie noch viele Dinge tun möchten, bevor Ihr Leben vorbei ist“, schrieb der populäre, im März 2018 verstorbene Kosmo­loge und Wissenschaftsautor Stephen Hawking mit Blick auf jene Krankheit, die ihn schon früh an Rollstuhl und Sprachcomputer gefesselt hat. Zu den „vielen Dingen“ zählte auch die Arbeit an ­diesem Buch, das nun postum seine Beiträge zu den großen Menschheits­fragen zusammenfasst: nach Gott, nach unserer ­Herkunft, unserem Platz im Universum, unserer Zukunft. 

Geschrieben hat Hawking diese Texte für ein breites Publikum als ein Mann, der nicht nur eine schwierige Materie, ­sondern auch ein schweres Schicksal auf eine Weise öffentlich zu bewältigen wusste, die Millionen von Menschen ermutigt hat. Der brillante Physiker zeigt sich hier als Familienmensch und unerschütterlicher Optimist, aber auch als unbestechlicher Realist, der seinen Lesern zeigt, warum sie von der Physik keine Wunder erwarten dürfen und warum mit dem technischen Fortschritt auch die Verantwortung für unsere Welt wächst. 

Wenn er rückblickend bekennt, er habe in seinem jugendlichen Forscherdrang Geräte zwar sehr gut auseinandernehmen, aber kaum wieder zusammensetzen können, klingt hinter der Selbstironie auch die Sorge angesichts der selbstzerstörerischen Kräfte des Menschen an. Gleichwohl ist dieses Buch ein Vermächtnis – und ein Appell an die Menschheit, ihrer Intelligenz und Vernunft zu vertrauen, um Antworten auf die großen Fragen des Universums und Lösungen für die großen Probleme auf unserem Planeten zu finden: „Seid tapfer, neugierig, entschlossen und überwindet alle Widrigkeiten!“ 

Ulrich Baron

Leseprobe

Werden wir auf der Erde überleben?

Im Jahr 1947 stand die Uhr auf sieben Minuten vor zwölf. Heute ist sie dem Doomsday (Tag des Welt­untergangs oder des Jüngsten Gerichts) näher als je zuvor, außer in den frühen 1950er Jahren (1953), zu Beginn des Kalten Krieges. Diese Uhr und ihre Zeit­anzeige haben natürlich rein symbolische Be­deu­tung, aber als Wissenschaftler sehe ich mich genötigt, diese alarmierende Warnung anderer Wissenschaftler ernst zu nehmen, die zumindest teilweise durch die Wahl von Donald Trump motiviert war. Ist diese Uhr, verbunden mit der Vorstellung, dass die Zeit tickt oder für die Menschen sogar abläuft, realistisch oder Panikmache? Kommt ihre Warnung zur rechten Zeit – oder ist alles nur Zeitverschwendung?

An der Zeit habe ich ein eminent persönliches Interesse. Erstens trug mein Bestseller – der Hauptgrund, weswegen ich über die Grenzen der Wissenschaftsgemeinde hinaus bekannt bin – den Titel „Eine kurze Geschichte der Zeit“. Womöglich halten mich viele Menschen für einen Zeit-Experten, obwohl es in unserer Zeit nicht unbedingt von Vorteil ist, ein Experte zu sein. Zweitens bin ich in ­einem ganz anderen Sinn Zeit-Experte: Als jemand, der mit 21 Jahren von den Ärzten erfuhr, dass er nur noch fünf Jahre leben werde, und im Jahr 2018 

76 Jahre alt geworden ist, habe ich ein ausgesprochen persönliches Verhältnis zur Zeit. Wie die Zeit verrinnt, ist mir unangenehm und überdeutlich bewusst und die überwiegende Zeit meines Lebens habe ich in dem Gefühl gelebt, dass die Zeit, die mir gewahrt wurde, „geborgt“ ist, wie man so sagt.

Unsere Welt ist politisch offensichtlich instabiler als je zuvor in meiner Erinnerung. Viele Menschen haben das Gefühl, wirtschaftlich und gesellschaftlich abgehängt zu sein. Das hat zur Folge, dass sie sich Populisten – oder zumindest populären Politikern – anschließen, die nur begrenzte 

Regierungserfahrungen haben und deren Fähigkeit, in einer Krise einen kühlen Kopf zu bewahren, sich erst noch erweisen muss. Und deshalb muss der Zeiger der Atomkriegsuhr näher an den kritischen Punkt herangerückt werden, denn die Wahrscheinlichkeit nimmt zu, dass leichtfertige oder böswillige Kräfte eine weltweite Katastrophe auslösen.

Die Erde ist in so vieler Hinsicht bedroht, dass es mir schwerfällt, optimistisch zu sein. Die Bedrohungen sind zu gewaltig, und es sind zu viele.

Erstens: Die Erde wird zu klein für uns. Unsere Ressourcen wie beispielsweise die Bodenschätze erschöpfen sich mit rasanter Geschwindigkeit. Wir haben unserem Planeten das katastrophale Geschenk des Klimawandels beschert. Steigende Temperaturen, Rückgang der Polkappen, Waldsterben, Überbevölkerung, Krankheiten, Krieg, Hungersnot, Wassermangel und die Dezimierung der Tierarten – eigentlich alles lösbare Probleme, die aber sämtliche bis heute nicht gemeistert sind.

Wir alle verursachen die globale Erwärmung. Wir wollen Autos, Reisen, einen höheren Lebensstandard. Das Problem ist nur: Wenn die Menschen schließlich merken, was sie anrichten, ist es höchstwahrscheinlich schon zu spät. Wir stehen an der Schwelle eines zweiten Atomzeitalters und einer Periode eines noch nie dagewesenen Klimawandels. Wissenschaftler haben eine besondere Verantwortung dafür, die Öffentlichkeit zu informieren und die politischen Führungspersönlichkeiten hinsichtlich der Gefahren zu beraten, vor denen die Menschheit steht. Als Naturwissenschaftler kennen wir die Gefahren von Atomwaffen und ihre verheerenden Auswirkungen. Wir haben studiert, wie menschliche Aktivitäten und Technologien die Klimasysteme in einer Art und Weise angreifen, die das Leben auf Erden auf Dauer verändern kann. Als Weltbürger haben wir die Pflicht, dieses Wissen nicht für uns zu behalten, sondern die Öffentlichkeit auf die unnötigen Risiken hinzuweisen, mit denen wir täglich leben. Wir sehen eine große Gefahr auf uns zukommen, wenn Regierungen und Gesellschaften jetzt nichts unternehmen, um Atomwaffen überflüssig zu machen und dem fortgesetzten Klimawandel Einhalt zu gebieten. 

Gleichzeitig leugnen viele der besagten Politiker die Realität eines vom Menschen verursachten Klimawandels – oder jedenfalls die Fähigkeit des Menschen, ihn aufzuhalten, und das genau zur selben Zeit, da unsere Welt mit mehreren höchst bedrohlichen Umweltkrisen konfrontiert ist. Die akute Gefahr besteht, dass die globale Erwärmung selbst­erhaltend wird, wenn das nicht schon eingetreten ist. Das Abschmelzen der Eiskappen in der Arktis und Antarktis reduziert den Anteil an Sonnenenergie, der in den Weltraum zurückgestrahlt wird, und ­erhöht damit die Temperatur noch weiter. Der ­Klimawandel vernichtet mutmaßlich den Regenwald im Amazonasgebiet und andere Regenwälder, womit ­einer der wichtigsten natürlichen Prozesse verschwindet, durch den Kohlendioxid aus der Atmo­sphäre beseitigt wird. Der Anstieg der Meerestemperatur konnte große Mengen Kohlendioxid freisetzen. Beide Phänomene würden den Treibhaus­effekt und damit die globale Erwärmung insgesamt verstärken. Beide Auswirkungen könnten dazu führen, dass wir ein Klima wie das auf der Venus bekommen: siedend heiß, Schwefelsäureregen und eine Temperatur von weit über 250 Grad. Menschliches Leben wäre nicht mehr möglich. Wir müssen mehr tun, als das Kyoto-Protokoll vorgibt. Dieses inter­nationale Abkommen, das 1997 beschlossen wurde, verlangt, dass wir jetzt die Kohlendioxidemissionen ­radikal reduzieren. Die Technologie dazu haben wir. „Nur“ der politische Wille dafür fehlt uns. 

Wir können ein ignoranter, gedankenloser Haufen sein. Als wir in unserer Geschichte mit vergleichbaren Krisen konfrontiert waren, konnte man sich anderswo ansiedeln. Man denke nur an Kolumbus und seine Entdeckung der Neuen Welt 1492. Aber jetzt gibt es keine neue Welt mehr, kein Utopia gleich um die Ecke. Unser Lebensraum wird knapp. Uns bleibt keine andere Wahl, als auf andere Welten auszuweichen. ←