Courtney Summers: SADIE

Verzweifelte Verfolgungsjagd

19. März 2019
Ein totes Mädchen in einer US-Kleinstadt, ihre zu allem entschlossene Schwester auf der Jagd nach dem Mörder und ein Journalist auf Spurensuche: „Sadie“ erzählt so authentisch wie ein True-Crime-Roman von Schuld, Liebe und Gerechtigkeit.  

Willkommen in Cold Creek, Colorado. 800 Einwohner, jedes zweite Gebäude ist leer oder vernagelt“. So moderiert Journalist West ­McCray die erste Folge seiner Podcast-Serie „The Girls“ an, und die beginnt wie so viele Geschichten mit ­einem toten Mädchen: Die 13-jährige Mattie wurde ermordet ­neben einer verlassenen Schule gefunden. Die Ermittlungen der Polizei versanden bei einem nicht identifizierbaren Truck, in den das Mädchen laut letzten Augenzeugen eingestiegen ist. Was ist passiert? Und wer ist der Mörder? Das scheint niemanden so richtig zu interessieren, bis auf Matties 19-jährige Schwester Sadie, die Rache will für ihren unerträglichen Schmerz und ­Verlust – auch auf die Gefahr hin, selbst dabei draufzugehen. Der Mann, der die Schwester getötet hat, soll nicht einfach so weiterleben dürfen, nicht seine Lungen genüsslich füllen mit der Luft, die Mattie „nicht mehr atmen kann“. Das geht Sadie immer wieder durch den Kopf, während sie bei ihrem gefährlichen Road­trip quer durchs Land dem mutmaßlichen Mörder dicht auf den Fersen ist. Ob der Mann, den sie verfolgt, aber tatsächlich der Mörder ist und woher Sadie ihn kennt, das puzzelt sich in diesem Thriller höchst spannend Stück für Stück zusammen. 

Autorin Courtney Summers verdichtet das düstere Setting durch zwei ganz unterschiedliche Erzählperspektiven, die sie schnell geschnitten und mit vielen Vor- und Rückblenden ineinandermontiert: So berichtet der gefeierte Podcast-Journalist West McCray in seinem mit vielen O-Tönen angereicherten Script immer wieder von seiner fast aussichtslosen, aber zunehmend leidenschaftlicheren Suche nach Sadie, die mehr und mehr exemplarisch wird für all die verschwundenen und getöteten Mädchen, von denen die Medien täglich berichten. Wo sind sie? Was ist mit ihnen geschehen? Mehr als ein Mal will West das Handtuch werfen, aber dann scheut er doch keine Mühen: So reist er Sadie nach ihrem Verschwinden Tausende von Kilometern hinterher, sammelt an jeder ihrer Zwischenstationen neue Spuren, sucht und befragt Menschen, die ihr begegnet sind. Dabei legt er Schicht für Schicht ihre tragische Geschichte frei. Zum Vorschein kommt eine gebrochene, aber nicht zerbrochene Persönlichkeit, die viel Schreckliches erlebt und große Hochachtung verdient hat. 

Während West McCray zusammen mit den Lesern in der Rückschau nach Antworten sucht, zoomt Sadies fesselnde Erzählstimme mitten hinein in ihr halsbrecherisches Abenteuer und ihr komplexes, wundes Inneres: So klar und hellsichtig erzählt sie von ihrer Kindheit mit den damit verbundenen traumatischen Erfahrungen, so fühlbar sind ihr Mut und ihre schier übermenschliche Kraft, dass ihre Reaktion auf den Mord – die Hartnäckigkeit und Unbedingtheit, mit der sie sich auf die Suche nach dem Mörder macht – bezwingend logisch erscheint. Denn für Mattie war Sadie nie das stotternde, ungeliebte Mädchen, sondern Mutterersatz und Kriegerin, und so kämpferisch und entschlossen will Sadie nun auch für Gerechtigkeit sorgen. 

Dass dieser Roman bei aller Emotionalität aber keine Tragödie geworden ist, sondern ein atemloser Thriller, ist neben Courtney Summers’ präziser und tiefgründiger Sprache vor allem ihrer Idee zu verdanken, das Format der Podcast-Serie und den inneren Monolog zu verknüpfen – ein spannendes Experiment: „Ich wollte, dass die Perspektive von West Sadies Perspektive im Laufe des ­Romans sehr scharf kontrastiert. Viel vom Charakter Wests hing vollständig von Sadies Kapiteln ab, da er nur reagierte“, erläutert Summers ihren ungewöhn­lichen Schreibprozess. In puncto Spannungsaufbau haben ihre beiden Protagonisten aber durchaus etwas gemein: Sie enthüllen ihre Geschichte in kleinen Dosen, geben immer nur so viel preis, wie zum Verständnis der nächsten dramatischen Zuspitzung nötig ist. Ein Thriller der Extraklasse, der gerade auch in Zeiten der #meToo-Bewegung eine ungeheure Wucht entfaltet: Da sind zwei, die nicht wegschauen. Dass vor allem Sadie dabei bis zum Äußersten geht und ihr Leben riskiert, liegt auch daran, dass viel zu viele schon viel zu lange schweigen und wegschauen.