Buchjournal-Fragebogen

#Autorenbesuchen - Heute bei Alissa Walser

8. April 2020

Die Corona-Pandemie bestimmt derzeit unser Leben – und natürlich auch das von Autorinnen und Autoren. Zu Hause arbeiten ist für sie zwar nichts Neues, doch auch ihr Alltag sieht momentan oft ganz anders aus. Wir haben nachgefragt und präsentieren unter #Autorenbesuchen regelmäßig neue Antworten aus dem literarischen Homeoffice.

Alissa Walser ist Schriftstellerin, Malerin und Übersetzerin. Für ihr Werk wurde sie vielfach ausgezeichnet, unter anderem 1992 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis und 2010 mit dem Spycher Literaturpreis Leuk. Zuletzt erschien von ihr der Prosaband „Eindeutiger Versuch einer Verführung“. 

Wie sehen Ihr Alltag und Ihre Arbeit im Moment aus?
Das Telefonieren hat einen höheren Stellenwert bekommen, so höre ich von Freunden. Einige sagen, dass sich durch die Situation ihr Tagesrhythmus ziemlich verändert habe. Sie stehen später auf, sie frühstücken später, alles verschiebt sich nach hinten. – Solche Verschiebungen vermeide ich ganz bewusst, und das fällt mir Gott sei Dank nicht schwer. Ich stehe wie eh und je vor Sonnenaufgang auf und beginne den Tag. Da hat sich nicht viel verändert. Und doch spüre ich eine Veränderung. Es hat sich etwas verlangsamt. Ich arbeite langsamer. Möglicherweise ist der Grund dafür diese relative Stille in der Umgebung. Es fühlt sich an, als hätte ich mehr Zeit. Mit einer langsamer fließenden Zeit gehe ich verschwenderischer um. Das Gute: Ich nehme mir mehr Zeit zum Lesen.

Was ist die größte Herausforderung?
Am Telefon mit Angehörigen und Freunden sprechen, die zu Risikogruppen gehören. Ihre Angst durchs Telefon spüren. Nichts tun können. Was soll man sagen? Wie soll man helfen. – Oder: nicht wissen, ob man das Virus bereits gehabt hat (ich war vor kurzem heftig krank – hohes Fieber und Bronchitis). Der Antikörper-Test ist noch nicht erhältlich und die Hotlines sind chronisch überlastet. Auch der Gedanke, dass man das Virus eines Tages bekommen wird, weil man es bekommen muss, damit die Herde immun wird – ein Virus, von dem man nicht weiß, ob man es überlebt. – Oder: Die Langsamkeit der Entwicklung. Wie lange herrscht schon Lockdown? Gefühlt eine Ewigkeit. Und dann lese ich gestern in der FAZ: Der Höhepunkt der Erkrankungen ist noch lange nicht erreicht.

Worauf freuen Sie sich persönlich besonders, wenn die Krise mal vorbei ist?
Auf all die Selbstverständlichkeiten: In die Stadt fahren, Freunde sehen, durch die Straßen laufen, Galerien, Kinos, Museen, Cafés. In die Deutsche Bibliothek gehen. Alles ohne nachzudenken. Diese Unbeschwertheit. Hoffentlich stellt sie sich wieder ein.

Welches Buch lesen Sie gerade?
Lydia Davis, "Formen der Verstörung".

Welches Buch sollten Buchjournal-Leser*innen jetzt oder später unbedingt lesen?
Lydia Davis, "Formen der Verstörung".

Was macht für Sie ein gutes Buch aus?
Ein gutes Buch lässt mich nicht los. Es mischt sich in meinen Tag ein. Und wenn ich es zuschlage und ins Regal stelle, verändert es den Raum. – Ist das jetzt zu viel verlangt? – Dann also: Es kommen sicher in jeder Saison viele ehrgeizig und gut geschriebene Bücher heraus. Nicht viele von ihnen sind mir "gute Bücher", Ehrgeiz reizt mich weniger, Schreib-Erfahrungen um so mehr. Wenn der Autor*innen-Gestus hinter dem Erzählten verschwindet, hat es bei mir gute Chancen. Warum ein Buch geschrieben wird, ist Sache des Autors/der Autorin, das Buch lesen, die meine.

Welches Buch würde in Ihrer Bibliothek niemand erwarten?
Ich weiß nicht genau. Vielleicht "Zeraldas Riese" von Tomi Ungerer? Oder "Higglety Pigglety Pop!" von Maurice Sendak? Oder wohl eher "Ethnobotany in the New Europe" von Pardo-de-Santayana, Pieroni und Puri.

Wie sieht für Sie (in normalen Zeiten) ein gelungener Tag aus?
Gelungen heißt, ich habe es geschafft, die Stunden auszukosten. Sie haben sich mir mitgeteilt. Ich habe sie erfahren. Mit dieses Tages Stunden konnte ich eine Erfahrung machen. Leider gelingt das nicht mit jedem Tag.

Welche geheime Leidenschaft haben Sie?
Leidenschaftlich gern behalte ich Geheimnisse für mich. Ooops … Jetzt ist es raus …

Eine Eigenschaft, die Sie bewundern?
Warten zu können, ohne eine Erwartung zu haben.

Wofür sind Sie dankbar?
Gestern früh hatte ich ein paar Sätze notiert, die mir wichtig für mein derzeitiges Projekt erschienen. Beim Frühstück las ich in der FAZ einen Artikel, der besagte, dass die Menschen sich in Krisenzeiten immer gerne aufs Land zurückgezogen haben. Nach dem Frühstück fielen mir meine Sätze wieder ein, nicht der genaue Wortlaut. Den wollte ich nachschauen und fand mein Notizbuch nicht. Ich suchte und suchte und um nicht zu verzweifeln, kochte ich einen Tee. Während der Tee zog, suchte ich eine Runde weiter: vergeblich. Nur der Tee schien mir jetzt die Rettung. Ich kehrte in die Küche zurück – aber dort stand keine Teekanne. Ich konnte die Kanne nicht finden. Ich begann sie zu suchen und dachte, alles, was ich berühre, verschwindet, und dass das ein Fluch ist. Ich lief wieder durch die Wohnung und auf einmal entdeckte ich die Teekanne auf dem Couchtisch. Ich nahm sie mit in die Küche und setzte mich an den Tisch. Unter der FAZ entdeckte ich mein Notizbuch. Ist das nicht Grund genug? – Aber auch einfach für die vielen Insekten im Garten, die keinen Abstand voneinander halten müssen. Und: Dass es Farben gibt.