Buchjournal-Fragebogen

#Autorenbesuchen - Heute bei Kirsten Boie

15. April 2020
Die Corona-Pandemie bestimmt derzeit unser Leben – und natürlich auch das von Autorinnen und Autoren. Zu Hause arbeiten ist für sie zwar nichts Neues, doch auch ihr Alltag sieht momentan oft ganz anders aus. Wir haben nachgefragt und präsentieren unter #Autorenbesuchen regelmäßig neue Antworten aus dem literarischen Homeoffice.

Kirsten Boie arbeitete zunächst als Lehrerin, bis sie nach der Adoption ihres Sohnes auf Druck des Jugendamts ihren Beruf aufgeben musste. Stattdessen schrieb sie ihr erstes Kinderbuch. Seither hat sie über 100 Bücher verfasst und ist eine der renommiertesten und erfolgreichsten deutschen Kinderbuchautorinnen. Sie engagiert sich in der Leseförderung und in der Möwenweg-Stiftung, die sich in Swasiland unter anderem um Aids-Waisen kümmert. 2011 wurde Kirsten Boie mit dem Verdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnet.

Wie sehen Ihr Alltag und Ihre Arbeit momentan aus?
Entschleunigt! In den letzten Monaten, eher Jahren, war ich ständig unterwegs, zu Lesungen, Vorträgen, Podiumsdiskussionen; seit knapp zwei Jahren auch immer wieder im Zusammenhang mit der Aktion „Jedes Kind muss lesen lernen“. Schreiben ist mir fast wie ein Luxus erschienen, dafür war oft wenig Zeit. Das ist jetzt anders. Kinderpost und Kindermails sind allerdings mehr geworden – aber die anzugucken, ist immer eine große Freude! Und viel denke ich auch gerade mit Sorge daran, was die jetzige Situation wirtschaftlich für viele Kulturschaffende bedeutet. Endgültig werden wir das natürlich erst lange nach dem Ende der Krise wissen.

Was ist die größte Herausforderung?
Für mich persönlich? Zu den Menschen, die mir wichtig sind, nur noch per Telefon oder digital Kontakt zu haben. Aber das zumindest ist doch möglich! Wie hätte diese Zeit der Kontaktbeschränkungen denn vor zwanzig Jahren ausgesehen? Heute bekomme ich von Freunden täglich so viele Mails, WhatsApps, SMS, Nachrichten über Insta oder Messenger wie zu normalen Zeiten nicht. Alle versuchen, den Kontakt zu halten und sich wenigstens auf diese Weise gegenseitig zu stützen. 
Was mich aber wirklich belastet, ist, wie sehr durch die (natürlich notwendigen) Schulschließungen gerade die ohnehin abgehängten Kinder noch weiter abgehängt werden. Die Eltern können beim Homeschooling nicht helfen, viele von ihnen haben zu Hause keinen Drucker, können keine Arbeitsblätter ausdrucken, haben kein W-LAN, haben höchstens ein Handy. Und genau das sind die Kinder der Supermarktkassiererinnen und Paketboten, die wir jetzt allabendlich beklatschen. Was muten wir ihren Kindern zu? Auch darüber werden wir nachdenken müssen. Digitalisierung der Schulen, das wird jetzt ganz deutlich, muss auch bedeuten, dass gerade diese Kinder mitgenommen werden. Klatschen allein genügt nicht.

Worauf freuen Sie sich persönlich besonders, wenn die Krise mal vorbei ist?
Freunde zu treffen! Ins Kino zu gehen, ins Konzert! Und beim Spazierengehen nicht immer auf den Mindestabstand zu achten, der doch oft gar nicht einzuhalten ist.

Welches Buch lesen Sie gerade?
Delia Owens, „Der Gesang der Flusskrebse“. Das war lange Zeit liegen geblieben. Jetzt ist endlich genügend Zeit dafür.

Welches Buch sollten Buchjournal-Leser*innen jetzt oder später unbedingt lesen?
Das zu beantworten wäre doch Hybris. Zu den großartigen Eigenschaften von Büchern gehört ja gerade, dass jedes Buch bei jedem Leser auf andere Voraussetzungen stößt und deshalb unterschiedlich aufgenommen wird. Verschiedene Menschen brauchen verschiedene Bücher, und auch derselbe Mensch braucht in unterschiedlichen Situationen unterschiedliche Bücher. Manchmal sucht man in einer schwierigen Situation ein ernsthaftes, literarisches Buch. Manchmal geht es aber auch nur um Trost, um Lachen gegen die Sorgen – da darf das Buch auch schon mal einfach nur unterhaltend sein. Da kann ich doch nicht das eine Buch für alle empfehlen.

Was macht für Sie ein gutes Buch aus?
Das ist die schwierigste Frage von allen, trotzdem wird sie ja immer wieder gestellt. Dann bin ich einfach mal anspruchsvoll: Der Plot (egal, von welchem Genre wir gerade sprechen) muss stimmen; die Psychologie der Personen muss stimmen und auch ihre Beziehungen und Handlungen; die Dialoge müssen stimmen, die Beschreibung der Welt – Umgebung, Wetter, Tageszeiten – muss stimmen; die Sprache muss reich sein und zur Geschichte, Handlung, Aussage passen; Klischees sollten vermieden, vielleicht sogar gebrochen werden; es sollte dem Leser mindestens einen Aha!-Moment erlauben; es sollte sich nicht um die Wahrnehmung der Wirklichkeit drücken, selbst wenn es Fantasy erzählt. 

Welches Buch würde in Ihrer Bibliothek niemand erwarten?
Viele! Sicher mehr als die Hälfte. Seit Jahrzehnten lese ich ja, was das Feuilleton empfiehlt und was Auszeichnungen erhält ebenso wie das, was meine (sehr unterschiedlichen) Freunde empfehlen, und liebe außerdem (gut gemachte, s.o.!) Krimis und Kinderbücher. Genau diese Mischung finde ich so wunderbar. Da nur ein Buch zu nennen, wäre unehrlich. Und ich weiß ja auch gar nicht, was wer in meiner Bibliothek erwarten würde!

Wie sieht für Sie (in normalen Zeiten!) ein gelungener Tag aus?
Genug Zeit zum Schreiben, genug Zeit für Gespräche, genug Zeit spazieren zu gehen und am Abend vielleicht noch irgendwohin: Ins Kino, Theater, Konzert, zu Freunden, ins Restaurant. Das ist dann aber schon ein super gelungener Tag!

Welche geheime Leidenschaft haben Sie?
Pellkartoffeln mit Kräuterquark.

Eine Eigenschaft, die Sie bewundern?
Freundlichkeit, Zivilcourage, einen offenen Blick für die Welt um uns herum und Beharrlichkeit. Das sind aber schon vier.

Wofür sind Sie dankbar?
Dafür, dass ich zu einer Zeit und in einem Land geboren bin, das mir so viele Möglichkeiten eröffnet hat. Bei meinen regelmäßigen Aufenthalten für unsere Möwenweg-Stiftung in eSwatini erlebe ich doch, dass schon genügend zu essen, ein warmer Raum im Winter, ein Bett, geschweige denn Wasser oder Strom für unendlich viele Menschen auf der Welt ein unvorstellbarer Luxus sind. Und wir denken nicht einmal darüber nach. – Dass ich zu denen gehöre, die nicht darüber nachdenken müssen: Dafür bin ich am allerdankbarsten. Und für meine Familie. Und dafür, dass mir das Schreiben nach so vielen Jahren immer noch so große Freude macht – und dass es Menschen gibt, die meine Bücher lesen mögen. – Eigentlich bin ich dankbar für mein ganzes Leben.