Auszug aus Sally Greens HALF BAD - DAS DUNKLE IN MIR

Von Geburt an Böse?

26. März 2014
Von Weißen Hexen wird der Junge Nathan gnadenlos gequält und gejagt, weil sein Vater der gefürchtetste Schwarze Hexer ist. Hier ein Auszug aus Sally Greens packendem Debüt, das bereits in 45 Länder verkauft wurde.

Leseprobe
Ich öffne blinzelnd die Augen. Es ist immer noch Nacht. Gabriel schläft ganz in der Nähe. Wir befinden uns im Wald bei Mercurys Chalet. Das Häuschen ist besonders, denn ich kann darin schlafen, aber ich habe es nur zweimal versucht. Es ist mir nachts zu klaustrophobisch da drin, auch wenn mir nicht übel wird. Wie dem auch sei, ich ziehe es vor, hier zwischen den Bäumen zu schlafen. Rose schläft im Chalet. Ich weiß nicht, wo Mercury schläft, falls Mercury schläft.
In der ersten Nacht hat Gabriel gesagt: „Das Chalet ist das Gästehaus. Ich denke, Mercurys wirkliches Zuhause ist weit weg.“
„Eine steinerne Burg auf einem zerklüfteten Felsvorsprung?“
„Das ist mehr ihr Ding. Ich habe sie zu dem Gletscher hinaufgehen sehen. Ich schätze, dort oben ist ein weiterer Einschnitt, der zu ihrem wahren Zuhause führt. Ich habe auch Rose einige Male in diese Richtung gehen sehen.“
Rose ist Mercurys Assistentin, und ich schätze sie auf Anfang zwanzig. Sie ist dunkel und kurvenreich und schön, aber sie ist keine Schwarze Hexe. Sie ist eine Scheiße-Hexe – das ist ihr Name für Weiße Hexen – aber Mercury hat sie großgezogen. Rose hat laut Gabriel die Gabe, ein Nebel zu sein, den man vergisst, was mir nichts sagt, und er meint, man sollte es am besten selbst erfahren, statt es erklärt zu bekommen. Rose benutzt ihre Gabe, um gewisse Dinge für Mercury zu besorgen.
Mit Mercury habe ich kaum gesprochen. Ich bin schon über eine Woche hier, und seit dem Tag meiner Ankunft ist sie nicht wieder im Chalet gewesen.
Ich habe ihr erklärt, dass ich ihre Hilfe brauche. Ich habe gesagt, dass mein siebzehnter Geburtstag in gut zwei Wochen sei. Ich war höflich. Alles, was ich dafür bekommen habe, war nichts.
Nichts.
Gabriel sagt, sie würde mich rechtzeitig empfangen.
Aber jeden Tag … nichts.
Ich weiß, es ist eine Art Spiel, das sie spielt und …
„Bist du wach?“, murmelt Gabriel.
„Mmmh.“
„Hör auf, dir wegen Mercury Sorgen zu machen. Sie wird dir drei Geschenke geben.“
Gabriel scheint immer zu wissen, was ich denke, und ich versuche immer, ihn nicht merken zu lassen, dass er recht hat.
„Ich mache mir keine Sorgen. Ich habe darüber nachgedacht, was ich tun werde, wenn ich meine Gabe empfangen habe.“
„Und was wirst du tun?“
Nach meinem Vater suchen. Falls er gefunden werden will, bin ich mir sicher, dass ich ihn finden kann. Und dann werde ich ihm irgendwie beweisen, dass ich ihn niemals töten werde. Aber ich glaube nicht, dass er will, dass ich ihn finde, und ich sehe nicht, wie ich dann irgendetwas beweisen kann.
„Nun?“
Ich habe Gabriel nichts weiter von mir erzählt: nichts von den Tätowierungen, nichts über die Vision meines Vaters oder über den Fairborn.
Ich sage: „Ich werde meine Gabe weiterentwickeln. Ich will nicht als Nichtskönner enden.“
„Genau, es ist schlimm genug, als Fain zu enden. Und was noch?“
„Was bringt dich auf die Idee, dass da noch etwas anderes sein könnte?“
„Weil du manchmal total … es gibt da ein englisches Wort – trübselig – wirst? Ja, ich glaube, das ist es. Du bist manchmal trübselig.“
Trübselig!
„Ich glaube, du hast das falsche Wort erwischt. Nachdenklich trifft es eher.“
„Nein, ich denke, das richtige Wort ist trübselig.“
Ich schüttle den Kopf. „Es gibt da ein Mädchen, das ich mag.“
„Und?“
„Und es ist wahrscheinlich wirklich dumm von mir. Sie ist eine Weiße Hexe.“
Ich erwarte, dass er sagt, es sei wirklich dumm und dass ich getötet werden würde und wahrscheinlich daran schuld sein würde, dass sie ebenfalls getötet wird. Aber er sagt nichts.