Franziska Wolffheim: ZWEISTEIN ODER DAS BRUMMEN DER WELT

Philosoph auf vier Pfoten

4. April 2014
Von außen unterscheidet sich Zweisteins Leben kaum von dem anderer Kater. Er döst gern, macht lange Ausflüge und lässt sich von seiner Besitzerin verwöhnen. Wie originell und gewitzt er dabei über die Welt sinniert, erzählt Franziska Wolffheim in 50 verspielten Geschichten.

Zweistein oder das Brummen der Welt

Manchmal kann Zweistein hören, wie die Erde brummt. Er hat es zum ersten Mal erlebt, als er neben einem Maulwurfshügel lag und döste. Ein tiefes Brummen, wie von einer Bass-Saite. Seitdem legt er sein Ohr immer an den Boden, wenn er einen Maulwurfshügel sieht. Meist hört er gar nichts. Aber hin und wieder ist da etwas, und Zweistein wird ganz aufgeregt. Mal brummt es ohne Pause, dann in kurzen Abständen, unterschiedlich lang, als wolle jemand etwas morsen. Zweistein glaubt, dass die Erde spricht, aber noch kann er sie nicht verstehen. Er hört ganz genau zu und versucht, sich die Geräusche zu merken.

Zweistein stellt sich vor, was die Erde wohl erzählt. Vielleicht sagt sie, dass sie sehr alt ist und manchmal ächzt, weil sie so viel tragen muss, Menschen, Katzen, Häuser, Brücken, Fernsehtürme. Zweistein ist recht jung, zweieinhalb Jahre, er kann sich nicht vorstellen, wie es ist, wenn man alt wird. Frau Fourgé, bei der er lebt, ist nicht jung und auch nicht alt. Sie hat ein paar graue Haare, aber ist ziemlich gelenkig und macht Gymnastik auf dem Teppich im Wohnzimmer.

Am liebsten würde Zweistein dorthin gehen, wo die Geräusche herkommen, zum Mittelpunkt der Erde. Er würde bestimmt besser verstehen, was die Erde sagt. Aber was ist, wenn er sich in den Tunneln, die die Maulwürfe gegraben haben, verirrt? Oder wenn er stecken bleibt? Und wer weiß, ob Maulwürfe überhaupt so tief graben können. Zweistein denkt, er wäre bestimmt die erste Katze, die zum Mittelpunkt der Erde käme. Er findet die Vorstellung großartig, aber gleichzeitig hat er das Gefühl, er solle lieber die Pfoten davon lassen. Es gibt Dinge, die man denkt, aber besser nicht macht.
Zweistein wird weiter sein Ohr an die Erde halten und aufgeregt sein, wenn er sie brummen hört. Irgendwann wird er ihre Sprache verstehen.


Der verschwundene Tag

Zweistein liegt unter dem Gartentisch und denkt nach. Manchmal schläft er auch beim Nachdenken ein, aber jetzt nicht. Gestern, überlegt Zweistein, war ein guter Tag. Er hat zwei Mäuse gefangen. Er hat es endlich geschafft, mit einem Satz über die hohe Gartenmauer zu springen, wofür er sonst immer einen Zwischenstopp brauchte. Das Wichtigste aber: Lisbeth war da und hat sich in seiner Nähe etwas länger geputzt als sonst. Sie hat ihn sogar aus dem Augenwinkel angeschaut.
Wo ist der Tag, der ein guter Tag war, eigentlich geblieben, überlegt Zweistein. Immerhin kann er sich an fast alles erinnern, und Spuren gibt es auch. Wahrscheinlich wird Zweistein heute einige von Lisbeths schönen weißen Haaren auf der Wiese finden können, er wird nachher danach suchen. Und die Überreste von den Mäusen, die er gefressen hat, liegen bestimmt noch im Gebüsch. Wieso kann ein Tag einfach weg sein, wenn Lisbeths Haare und die Mäusereste noch da sind? Auch die Tage davor müssten irgendwo sein. Vielleicht dösen sie herum, und ne­ben ihnen liegen Tausende anderer Tage. Sie erzählen sich gegenseitig, was bei ihnen so gelaufen ist, einige waren gut, andere weniger. Manche sind schon zwan­zig Jahre alt oder noch mehr.

Zweistein könnte versuchen, den Tag, der gerade vergangen ist, zu finden, dann würde er sich bei ihm bedanken. Im Moment fühlt er sich zu träge, um loszulaufen, doch heute Abend, wenn es kühler ist, wird er es tun. Wahrscheinlich wird er etwas länger suchen müssen nach dem Tag, der ein guter Tag für ihn war. Aber Zweistein ist ein guter Finder.


Besuch

Eines Tages ist der Besuch einfach da. Keiner hat Zweistein gefragt, ob er das möchte. Céline, die Nichte von Frau Fourgé, ist aus Paris gekommen. Sie hat hellbraune lange Haare, ist etwas mollig und trägt ein Armband, auf dem kleine Hunde aufgemalt sind. Céline spricht sehr laut, französisch. Zweistein kennt das schon, Frau Fourgés Fernseher redet auch häufig französisch. Wenn Frau Fourgé und Céline sich unterhalten, klingt es, als würden sich die beiden Frauen ansingen. Zweistein versteht kein Wort, außer non. Ein anderes Wort, das sie häufig benutzen, ist uiiich. Zweistein rätselt, was es zu bedeuten hat. Er muss an das Geräusch von Luft denken, die aus einem Fahrradreifen entweicht.

Céline hat ihren Hund dabei, Frédéric, einen Dackel. Zweistein ist der Meinung, dass Dackel aus­sehen wie Wurst auf vier Beinen. Frédéric bellt auf­geregt zur Begrüßung, es klingt auch irgendwie französisch, hoch und etwas schrill. Er hat ein hellbraunes Fell und Knopfaugen, um den Hals trägt er ein blaues Band, auf dem Knochen aufgemalt sind. Zweistein findet, dass sich Céline und Frédéric ähnlich sehen. Wenn Frédéric abends ausgeführt wird, legt Céline ihm eine karierte Wurstpelle um, sie selbst trägt eine karierte Jacke. In den Garten traut sich Frédéric nur selten, weil Casimir, der Nachbarshund, sofort anfängt zu bellen. In diesem Fall findet Zweistein Casimir sogar mal sympathisch. Frédéric versteckt sich ängstlich unterm Küchentisch, und Céline redet lange beruhigend auf ihn ein und sagt so was wie monpovrepüti. Man könnte meinen, Frédéric sei gerade gebissen worden und kurz vor dem Verbluten. Er jault französisch, das ist, als ob ein Teekessel pfeifen würde.

Frau Fourgé freut sich über die Gäste aus Paris. Sie sagt das so, als sei Frédéric, die Wurst, genauso wichtig wie Céline. Zweistein freut sich vor allem, dass sie Pâté mitgebracht haben, und hofft, dass Frédéric nichts davon abbekommt. Das blaue Halsband mit den Mäusen drauf, das sie für ihn ausgesucht haben, wird er niemals tragen. Notfalls würde er Frau Fourgé sogar in den Finger beißen.

Zweistein denkt darüber nach, warum Fremde plötzlich mit ihm unter einem Dach wohnen dürfen. Frau Fourgé sagt, es sei schön, die Familie zu Besuch zu haben. Ob der Dackel auch Familie ist, weil er Céline ähnlich sieht? Zweistein findet, dass Familie nicht automatisch etwas Gutes ist. Und Besuch schon gar nicht. Besuch heißt, dass plötzlich überall Koffer in der Wohnung herumstehen und liegen, Dosen mit Hundefutter, zerkaute Gummibälle. Allerdings darf man den, der zu Besuch kommt, nicht spüren lassen, dass man ihn nicht mag. Weil er Besuch ist. Wenn Zweistein nach Paris kommen würde, müsste Frédéric ihm alles zeigen und höflich zu ihm sein. Weil Zweistein Besuch ist. Zweistein möchte auf gar keinen Fall nach Paris und von einem höflichen Frédéric mit Hundeknochen-Halsband herumgeführt werden.

Frau Fourgé bittet Zweistein, Frédéric die Gegend zu zeigen, seine Lieblingsplätze. Céline zieht Frédéric die karierte Pelle an, sie meint, es sei ein wenig frisch draußen. Zweistein und Frédéric trotten auf die Terrasse. In dem Moment kommt Casimir aus dem Gebüsch geschossen, Zweistein bedankt sich im Geiste bei ihm. Frédéric rennt zurück ins Haus, Zweistein  verschwindet hinterm Schuppen.
Er wird jetzt länger draußen bleiben. Mäuse gibt es genug. Und Schlafplätze auch. Der Nachbarsjunge Max hat auf seinen Hochsitz im Baum einen alten Korb gestellt, in dem Zweistein sehr gut schlafen kann. Zweistein fühlt sich dort zu Hause. Nicht zu Besuch.