Terry Hayes: FACELESS

Faceless – Der Tod hat kein Gesicht

10. Juni 2014
In New York wird die grausam entstellte Leiche einer Frau gefunden. Undercover-Agent Pilgrim kommt bei seinen Ermittlungen einer terroristischen Verschwörung auf die Spur. Ein Auszug aus Terry Hayesʼ packendem Thrillerdebüt.

Es gibt Orte, an die ich mich zeitlebens erinnern werde – der Rote Platz, über den ein heißer Wind hinwegfegt, das Schlafzimmer meiner Mutter auf der falschen Seite der 8 Mile Road, der riesige Park eines exklusiven Kinderheims, eine Gruppe von ­Ruinen namens „Theater des Todes“, in denen ein Mann wartete, um mich zu töten.

Doch nichts hat sich mir tiefer ins Gedächtnis eingeprägt als ein Hotelzimmer in New York: fadenscheinige Vorhänge, schäbiges Mobiliar, ein mit Tina und anderen Partydrogen überhäufter Tisch. Neben dem Bett liegen eine Handtasche, ein ultraknappes schwarzes Höschen und ein Paar Jimmy Choos mit 15 Zentimeter hohen Absätzen. So wie ihre Besitzerin gehören auch diese Dinge nicht hierher. Sie ist im Badezimmer, nackt. Mit durchschnittener Kehle liegt sie mit dem Gesicht nach unten in einer Badewanne voller Schwefelsäure, des Wirkstoffs von Abflussreinigern, die in jedem Supermarkt erhältlich sind.

Auf dem Boden liegen Dutzende leere Flaschen des Reinigungsmittels, DrainBomb mit Namen. Unbemerkt fange ich an, sie mir anzuschauen. Da an allen noch das Preisschild klebt, sehe ich, dass der Täter, um keinen Verdacht zu erregen, die Flaschen in zwanzig verschiedenen Läden gekauft hat. Wie ich immer sage: Es fällt schwer, umsichtiges Planen nicht zu bewundern.
Im Raum herrscht das reinste Chaos, der Lärm ist ohrenbetäubend – Polizei-Funkgeräte plärren, Assistenten des Coroners, die laut Unterstützung anfordern, eine Latina, die schluchzt. Selbst wenn das Opfer mutterseelenallein in der Welt war, gibt es offenbar immer jemanden, der an einem solchen Ort weint.

Die junge Frau im Bad ist unidentifizierbar. Weil sie drei Tage lang im Säurebad gelegen hat, sind ihre Gesichtszüge völlig zerstört. Das war der Plan, nehme ich an. Denn wer immer sie getötet hat, hat auch ihre Hände mit Telefonbüchern beschwert. Durch die Einwirkung der Säure sind nicht nur ihre Fingerabdrücke unkenntlich geworden, sondern es wurde auch nahezu das gesamte darunter befindliche metakarpale Gewebe zerfressen. Sollten die Kriminaltechniker vom New York Police Department beim Gebissabgleich keinen Treffer erzielen, dürfte ihnen die Identifizierung des Opfers verdammt schwerfallen.

An Orten wie diesem, an denen man das Gefühl hat, dass das Böse noch an den Wänden klebt, schweifen die Gedanken mitunter in eigenartiges Terrain ab. Das geistige Bild einer jungen Frau ohne Gesicht ruft mir einen alten Lennon/McCartney-Song in Erinnerung: Eleanor Rigby – eine Frau, die ein Gesicht aufsetzt, das sie in einem Konservenglas neben der Tür aufbewahrt. Also nenne ich das Opfer Eleanor. Das Tatort-Team hat noch Arbeiten zu erledigen, doch alle im Zimmer Anwesenden glauben, dass Eleanor beim Sex ermordet wurde: die halb von der Unterlage gezogene Matratze, das zerwühlte Bettlaken, die bräunlichen Spritzer geronnenen arteriellen Bluts auf einem Nachttisch. Die richtig Perversen meinen, der Täter habe ihr die Kehle durchgeschnitten, noch während er in ihr war. Das Üble daran ist: Sie könnten recht haben. Doch wie immer die Frau auch gestorben ist – wer nach Positivem sucht, kann es ja darin finden, dass sie vermutlich gar nicht bemerkte, was geschah, beziehungsweise erst im letzten Augenblick.
Dafür dürfte Tina – Crystal Meth – gesorgt haben. Die Droge macht einen so geil, so euphorisch, dass jedes Gefühl von Vorahnung verloren geht. Die meisten Menschen haben unter dem Einfluss von Tina nur einen zusammenhängenden Gedanken: Wo gabele ich jemanden auf, den ich um den Verstand vögeln kann?

Neben den beiden leeren Alufolien mit Tina liegt etwas, das wie eines dieser kleinen Shampoofläschchen aussieht, die man in Hotelbadezimmern gratis bekommt. Es hat kein Etikett und enthält eine klare Flüssigkeit – wahrscheinlich GHB. In den Schmuddelecken des Internets wird es inzwischen offen angeboten: In hoher Dosierung eingenommen, hat es Rohypnol als beliebteste Vergewaltigungsdroge ersetzt. Die meisten Musikschuppen sind voll davon.
Die Discogänger nehmen einen kleinen Schluck, um Tina zu verschneiden, damit sich die Wahnvorstellungen abschwächen. Doch GHB hat selbst Nebenwirkungen: eine herabgesetzte Hemmschwelle und ein intensiveres sexuelles Erleben. Auf der Straße wird es unter anderem „Easy Lay“ genannt. Nachdem Eleanor ihre Jimmy’s weggekickt hat und aus ihrem winzigen schwarzen Rock gestiegen ist, muss sie abgegangen sein wie eine Rakete am 4. Juli.

Allen Anwesenden unbekannt, ein Fremder mit teurem Sakko über der Schulter und jeder Menge Ballast in der Biographie, schiebe ich mich durch das Gedränge und bleibe neben dem Bett stehen. Ich blende den Lärm aus und sehe Eleanor vor mir: Sie sitzt oben, nackt, reitet ihn wie ein Cowgirl. Sie ist Anfang zwanzig, hat eine gute Figur, und ich stelle mir vor, dass sie mitten dabei ist – weil sie den Drogencocktail intus hat, steuert sie auf einen ungeheuren Orgasmus zu. Dank des Crystal ist ihre Körpertemperatur erhöht, die angeschwollenen Brüste hängen nach unten, Atem- und Herzfrequenz schnellen unter dem Ansturm der Leidenschaft und der chemischen Wirkstoffe in die Höhe. Ihr Atem kommt stoßweise, ihre feuchte Zunge sucht angestrengt nach dem Mund unter ihr. Sex ist heutzutage sicher nichts für Feiglinge.

Das Licht der Neonreklamen einer Reihe von Bars vor dem Fenster muss auf die blonden Strähnen in ihrer hochmodischen Frisur gefallen sein und sich auf ihrer Panerai-Taucheruhr gespiegelt haben. Sicher, die Uhr ist ein Plagiat, aber ein gutes. Ich kenne diese Frauen. Wir alle kennen sie – jedenfalls den Typus. Man sieht sie im riesigen neuen Prada-Shop in Mailand, in den Schlangen vor den Clubs in Soho, an wässrigen Latte macchiatos in den angesagten Cafés in der Avenue Montaigne nippend – junge Frauen, die „People“ für eine Zeitschrift mit Nachrichtenwert und ein japanisches Schriftzeichen auf dem Rücken für das Sinnbild ihrer Rebellion halten.

Der Typ, der Zimmer 89 bewohnte, war vermutlich schon eine Weile hier – auf einer Kommode stehen ein Sixpack Bier, vier halbleere Schnapsflaschen und ein paar Schachteln Frühstücksflocken. Auf einem Nachttisch steht eine Stereoanlage, daneben liegen einige CDs. Ich sehe sie kurz durch. Sein Musikgeschmack ist gar nicht mal übel. Der begehbare Kleiderschrank ist allerdings leergeräumt – anscheinend hat er seine Klamotten mitgenommen, als er das Weite suchte, während sich die Leiche in der Badewanne zu verflüssigen begann. Ganz hinten in der Ankleide liegt ein Haufen Abfall: weggeworfene Zeitungen, eine leere Dose Kakerlakengift, ein Wandkalender mit Kaffeeflecken. Ich greife nach dem Kalender. Jedes Blatt zeigt ein Schwarz-Weiß-Foto einer antiken Ruine – das Kolosseum, ein griechischer Tempel, die Celsus-Bibliothek bei Nacht. Auf Kunst gemacht. Doch die Kalenderblätter sind leer, auf keinem ist ein Termin vermerkt – außer als Kaffeeuntersetzer ist der Kalender offenbar nie verwendet worden. Ich werfe ihn wieder zurück.

Ohne zu überlegen, im Grunde aus Gewohnheit, wende ich mich ab und streiche mit der Hand über den Nachttisch. Seltsam: kein Staub. Ich mache dasselbe bei der Kommode, dem Kopfteil des Betts und der Stereoanlage und bekomme das gleiche Ergebnis. Der Mörder hat alles abgewischt, um seine Fingerabdrücke zu beseitigen. Das ist zwar nicht besonders originell, aber als ich einen Geruch wahrnehme und meine Finger an die Nase hebe, ändert sich alles. Der Geruch stammt von einem Desinfektionsspray, wie man es auf Intensivstationen verwendet. Es tötet nicht nur Keime, sondern zerstört, als Nebenwirkung, auch DNS-Material – Schweiß, Haut, Haare. Indem der Täter alles im Raum damit besprüht und anschließend die restliche Flüssigkeit über den Teppich und an die Wände geschüttet hat, hat er sichergestellt, dass sich die Leute vom NYPD mit ihren speziellen Staubsaugern gar nicht erst bemühen müssen.

Plötzlich wird mir klar, dass es sich hier um alles andere als ein lehrbuchmäßiges Tötungsdelikt wegen Geld, Drogen oder sexueller Befriedigung handelt. Dieser Mordfall ist etwas Außergewöhnliches.