Judith Hermann: ALLER LIEBE ANFANG

"Schreiben ist immer schwer"

20. August 2014
Ein Buch, das sein Thema schon im Titel trägt: „Aller Liebe Anfang“ erzählt von Stella und Jason, die friedlich am Rande der Stadt leben – bis ein Unbekannter auf den Plan tritt und ihr Glück zerstört. In ihrem ersten Roman lotet Judith Hermann meisterhaft die unterschiedlichen Ebenen der Liebe aus.

Die vielen Fans dieser Autorin benötigen Ausdauer, sie müssen warten können. Mindestens fünf Jahre beträgt der Abstand zwischen den einzelnen Büchern von Judith Hermann, beginnend mit ihrem berühmtesten, dem Debüt „Sommerhaus, später“, mit dem sie 1998 einen neuen Ton in die deutsche Gegenwartsliteratur brachte und in dessen somnambulen, melancholisch verträumten Figuren sich eine Generation von Metropolenbewohnern wiedererkannte. Zwei weitere Bände mit Erzählungen folgten, die Geschichten wurden länger, die Figuren der Berlinerin älter, erwachsener. Und doch blieb Judith Hermann die Expertin für die kleine Form, die wohl bekannteste und erfolgreichste Autorin von Kurzgeschichten hierzulande.

Ihr viertes Buch ist jetzt erstmals und überraschend ein Roman. Beabsichtigt war das nicht, sagt Judith Hermann beim Treffen in der Berliner Dependance ihres Verlags S. Fischer: „Ich habe längere Zeit versucht, diesen Stoff in einer Kurzgeschichte aufzuschreiben, und ich bin immer wieder gescheitert. Irgendwann hatte ich das deutliche Gefühl, dass ich zu viel zu erzählen habe, dass ich mich auf die lange Form einlassen muss.“

Es ist der Roman über ein nicht mehr ganz junges Paar, das mit der kleinen Tochter in einem Haus am Stadtrand lebt. Das festgefügte Arrangement von Stella und Jason gerät ins Wanken, als ein labiler und unglücklicher junger Mann aus der Nachbarschaft mit dem eigentümlichen Namen Mister Pfister sich in Stella verliebt und sie fortan immer ungestümer bedrängt – völlig unbeeindruckt davon, dass die Frau seiner Träume nichts von ihm wissen will. Mister Pfister wird zum Stalker, der die Abwesenheiten von Jason abpasst und beinah täglich an der Gartenpforte klingelt, Briefe und andere Botschaften für seine Angebetete, die als Krankenpflegerin arbeitet, hinterlässt.

Sie habe nicht eigentlich einen Roman über Stalking schreiben wollen, verrät die Autorin: „Es ging mir eher um die Neigung zu Obsessionen, das Beharren auf einer Projektion, das Versessensein auf eine Idee. Ich wollte die unterschiedlichen Ebenen der Liebe zur Sprache bringen; mich mit dieser Frage beschäftigen – wo fängt die Liebe an, wo hört sie auf.“

Es ist eine Art Kammerspiel, das Judith Hermann zur Aufführung bringt. Die Bühne ist das Haus von Stella und Jason. Die Räume verlässt die Handlung dieses Romans nur selten. Und immer bewegt sie sich im Umkreis der Siedlung. Die Vorstadt ist für das Paar zu einem unfreiwilligen Endpunkt geworden, sie sitzen fest. Erst recht aber gibt es für Stella kein Entkommen aus den Zuschreibungen des verliebten Sonderlings von nebenan. Zu Fluchtpunkten in einem Roman, der sich zunehmend als Katastrophenszenario entfaltet, werden Stellas Besuche bei ­ihren Patienten, alten Menschen, geschwächt von Krankheit, aber reich an Lebenserfahrung. Die vom Tod gezeichnete Esther rät Stella: „Zögern Sie nie! Das ganze Leben ist ein Abgrund, und je weniger Sie sich fürchten, je länger Sie hineinschauen, desto mehr haben Sie davon.“ Es ist einer der Merksätze, wie sie häufiger im Buch stehen. Die Autorin hat sie über lange Jahre hinweg aufgeschrieben: „Wann immer ich mit Stella zu Esther kam, war es ganz einfach. Sie ist angelehnt an alte Menschen, mit denen ich gelebt habe. Und sie besitzt diese Weisheit, die alten Menschen oft zu ­eigen ist.“

Es gab nach dem ersten Buch, das mit 600 000 verkauften Exemplaren zu einem der größten Erfolge der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur überhaupt wurde, einmal den Ratschlag an Judith Hermann, aufzuhören mit dem Schreiben und auf diese Weise zu einer geheimnisumrankten Autorin zu werden. Sie hat kurz da­rüber nachgedacht, aber seinerzeit waren bereits die ersten Erzählungen ihres zweiten Bands „Nichts als Gespenster“ entstanden. Und also hat Judith Hermann weitergeschrieben – langsam, konzentriert. „Schreiben ist immer schwer, aber ich vergesse das immer wieder“, sagt sie. Wir, ihre Leser, sind dankbar für die immer neuen Anfänge.