Karine Tuil: DIE GIERIGEN

Gesellschaftsroman – Glänzende Lebenslügen

22. August 2014
Sie waren einmal enge Freunde, bis ihnen die Liebe dazwischenkam. Als sich Samuel, Nina und Samir nach 20 Jahren wiedersehen, zählt nur noch, wem das erfolgreichere  Leben geglückt ist. Mit „Die Gierigen“ ist Karine Tuil ein kraftvoller, feinfühliger und hellsichtiger Gesellschafts­roman gelungen.

Es beginnt damit, dass Samuel eines Tages vor dem Fernseher sitzt und seinen Jugendfreund Samir sieht. Samuel, in Polen geboren und das Adoptivkind zweier linker französischer Vorzeigeintellektueller, ist von Neid zerfressen: Während er selbst immer davon geträumt hat, den großen Gesellschaftsroman zu schreiben, glänzt Samir nun plötzlich auf CNN und vor amerikanischen Gerichten als hoch bezahlter und engagierter Staranwalt, der sich für die Rechte von Afghanistan-Veteranen einsetzt.

Zwischen ihnen steht Nina. Samuel und Nina waren bereits seit einem Jahr ein Paar, als sie Samir Mitte der 80er Jahre an der Juristischen Fakultät der Pariser Universität begegnen. Das Trio wird zu einer geradezu legendären Einheit – bis eines Tages Samuels Eltern bei einem Unfall ums Leben kommen. „Kümmere dich um Nina“, sagt Samuel zu dem Freund, bevor er die sterblichen Überreste seiner Eltern nach Israel überführt. Samir kümmert sich, auf seine Weise ...

Karine Tuil, Jahrgang 1972, erzählt sowohl von den intimen persönlichen Verflechtungen der drei Freunde als auch von den Verwirrungen der Identitäten, von den religiösen und gesellschaftlichen Grenzlinien: Islam und Judentum, privilegierte Verhältnisse und das Aufwachsen in den grauen französischen Betonvorstädten. Freiheit versus Determinismus. 20 Jahre später fädelt Samuel ein Treffen mit dem erfolgreichen Freund in Paris ein. Sein ­Gedanke ist Rache für sein eigenes, vermeintlich verpfuschtes Leben. Und er löst damit eine Lawine von ungeahnter Dimen­sion aus. Tuils Tonfall ist eine höchst eigenwillige Mischung aus ­rasantem Erzählstil und psychologischer Analyse. Das Ergebnis ist ein Roman von diagnostischer Kraft. Und zudem eine Lektüre, die Sogwirkung entfaltet.