Ildefonso Falcones: DAS LIED DER FREIHEIT

Spanien im Jahr 1748

21. November 2014
Was bedeutet Freiheit für eine ehemalige Sklavin? Die dunkelhäutige Caridad kommt nach einer abenteuerlichen Schiffsüberfahrt mittellos in Andalusien an – und meistert ein Schicksal voller Hass, Verrat, Liebe und Hoffnung. Eine Leseprobe aus Ildefonso Falcones neuem Roman "Das Lied der Freiheit".
Hafen von Cádiz, 7. Januar 1748
Als sie den Kai schon fast mit dem Fuß berührte, zögerte Caridad. Sie verharrte auf der Laufplanke der Feluke, mit der die Passagiere der La Reina ausgebootet wurden, des Kriegsschiffs, das sechs Handelsschiffe mit wertvollen Waren über den Ozean begleitet hatte. Die Frau hob den Blick zu der Wintersonne, die das geschäftige Treiben im Hafen in helles Licht tauchte: Die Ladung eines der Handelsschiffe, das mit ihnen in Havanna aufgebrochen war, wurde gerade gelöscht. Die Sonne stahl sich durch die Ritzen ihres schäbigen Strohhutes und blendete sie. Der Lärm verstörte sie, und sie verkrampfte sich ängstlich, als gälte all das Schreien und Rufen ihrer Person.
„He, du da, weiter!“, schnauzte ein Seemann die dunkelhäutige Frau an und drängelte sich rücksichtslos an ihr vorbei. Caridad stolperte und wäre beinahe ins Wasser gefallen. Schon wollte der Nächste sie überholen, doch da sprang sie ungelenk auf den Kai, trat zur Seite und blieb wieder stehen, während die Seeleute unter Lachen und Scherzen weiter entluden und gewagte Wetten über die Weiber abschlossen, bei denen sie sich für die lange Ozeanüberfahrt entschädigen würden.
„Genieß deine Freiheit!“, rief ein anderer Mann, als er an der Schwarzen vorbeiging und sich dazu hinreißen ließ, sie heftig in die Oberschenkel zu kneifen.
Seine Gefährten lachten. Caridad reagierte nicht, sie starrte auf den langen schmutzigen Pferdeschwanz, der auf dem Rücken des Matrosen hin und her tanzte und dessen Lumpenhemd streifte, bis der Mann sich mit schwankenden Schritten in Richtung der Puerta de Mar verlor.
Freiheit?, fragte sie sich. Welche Freiheit? Sie sah über den Kai hinweg zur Stadtmauer. Die meisten der mehr als fünfhundert Besatzungsmitglieder der La Reina drängten sich vor dem Stadttor, wo ein ganzes Heer von Amtspersonen – bestehend aus Vorstehern, Wachleuten und Prüfern – sie auf der Suche nach illegalen Waren filzte und über den Verlauf der Überfahrt befragte. Die Seeleute warteten ungeduldig darauf, die Prozedur hinter sich zu bringen, manche forderten lauthals, unverzüglich durchgelassen zu werden, doch die Inspektoren gaben nicht nach. La Reina, die nun majestätisch vor der Insel Trocadero vor Anker lag, hatte in ihrem Schiffsbauch mehr als zwei Millionen Pesos transportiert und fast ebenso viele Silberbarren, aber auch Caridad und ihren Besitzer Don José.
Dieser verdammte Don José! Caridad hatte ihn während der Überfahrt gepflegt. „Schiffspest“, hatten die Männer an Bord gesagt. „Er wird sterben“, waren sie sich einig gewesen. Und er starb tatsächlich, nach einer langen Agonie, während der sich sein Körper Tag um Tag in gewaltigen Schwellungen, Fieberschüben und Blutungen aufzehrte.
Einen ganzen Monat lang waren Don José und seine Sklavin in einer kleinen stickigen Kabine eingesperrt, in der es nur eine Hängematte gab. Don José hatte tief in die Tasche gegriffen, damit der Kapitän von der Kajüte im Heck, die von den Schiffsoffizieren gemeinsam genutzt wurde, für ihn und seine Sklavin einen kleinen Raum abteilte.
„Eleggua, mach, dass seine Seele niemals Ruhe findet! Eleggua, mach, dass sie weiter umherirrt“, hatte Caridad gefleht, während sie in der engen Kabine die machtvolle Gegenwart des Höchsten Wesens gespürt hatte, des Gottes, der das Schicksal der Menschen bestimmte. Und als ob Don José ihre Stimme vernommen hätte, hatte er sie mit grausig finsteren Augen um Mitleid angefleht und Hilfe suchend die Hand nach ihr ausgestreckt. Aber Caridad hatte ihm jeden Trost verweigert.
Hatte sie damals nicht auch verzweifelt die Hand ausgestreckt, als man ihr den kleinen Marcelo wegnahm? Und was hatte ihr Herr daraufhin getan? Er hatte dem Vorarbeiter der Tabakplantage befohlen, sie festzuhalten, und einen anderen schwarzen Sklaven angebrüllt, den Kleinen mitzunehmen.
„Sieh zu, dass er Ruhe gibt!“, hatte er drohend
auf dem Vorplatz vor dem großen Haus verlangt, wo die Sklaven versammelt waren, um zu erfahren, wer ihr neuer Besitzer werden würde und welches Schicksal sie von nun an erwartete. „Das ist ja nicht auszu­halten …“
Dann hatte Don José plötzlich geschwiegen. Die Verwunderung war den Sklaven an den Gesichtern abzulesen gewesen. Caridad war es gelungen, sich dem Vorarbeiter zu entwinden, um zu ihrem kleinen Sohn zu laufen, doch sogleich war sie sich ihrer Unvorsichtigkeit bewusst geworden und stehen geblieben. Eine Weile waren nur die verzweifelten Schreie Marcelos zu vernehmen gewesen.
„Soll ich sie auspeitschen, Don José?“, hatte der Vorarbeiter gefragt, als er Caridad wieder am Arm packte. „Nein“, hatte Don José nach kurzer Überlegung gesagt. „Ich habe keine Lust, sie verletzt mit nach Spanien zu nehmen.“
Cecilio, der große Sklave, hatte Caridad daraufhin losgelassen und den kleinen Marcelo unter dem strengen Blick des Vorarbeiters zur Hütte geschleift. Caridad war auf die Knie gefallen und ihr Klagen hatte sich mit dem Weinen des Jungen vermischt. Damals hatte sie ihren Sohn zum letzten Mal gesehen. Sie durfte sich nicht einmal von ihm verabschieden, man gestattete ihr nicht …
„Caridad! Frau, was stehst du da herum?“ Als sie ihren Namen hörte, kehrte sie in die Gegenwart zurück. Es war die Stimme von Don Damián, dem alten Kaplan der La Reina, der ebenfalls an Land gegangen war. Sogleich ließ sie ihr Bündel fallen, zog den Hut, senkte den Blick und starrte auf ihre schäbige Kopfbedeckung, die ihre Hände jetzt zerdrückten.
„Du kannst hier nicht auf dem Kai stehen bleiben“, ermahnte der Priester sie und nahm sie am Arm. Die Berührung dauerte nur einen Augenblick, dann löste der Geistliche verwirrt die Hand. „Los“, trieb er sie an, „komm mit!“ Gemeinsam gingen sie zum Stadttor, Don Damián, mit einer kleinen Truhe beladen, und Caridad, das Bündel und den Hut in Händen, den Blick auf die Sandalen des Kaplans geheftet.
„Weg frei für einen Gottesmann!“, forderte der Priester die Seeleute auf, die sich vor dem Stadttor drängten.
Die Menschenmenge trat auseinander, um Platz zu machen. Caridad folgte ihm, schwarz wie Ebenholz, mit gesenktem Kopf, barfuß und mit schleppendem Schritt. Doch das lange graue Hemd aus grobem, rauem Stoff, das ihr als Gewand diente, konnte sie nicht richtig verhüllen: Sie war eine große, wohlgeformte Frau – viele Seeleute sahen auf, um ihr dichtes schwarzes Kraushaar zu betrachten, während andere ihre festen, üppigen Brüste und ihre ­ausladenden Hüften bewunderten.
Der Kaplan ließ sich nicht aufhalten, hob jedoch mahnend die Hand, wenn er Pfiffe oder unverschämte Rufe oder eine allzu dreiste Bemerkung vernahm.
„Ich bin Pater Damián García“, stellte sich der Priester vor und breitete seine Papiere vor einem der Vorsteher aus, sobald sie die Seeleute hinter sich gelassen hatten. „Der Kaplan des Kriegsschiffes La Reina der Armada Seiner Majestät.“
Der Amtmann begutachtete die Dokumente.
„Gestatten Padre, dass ich Eure Truhe unter­suche?“
„Persönliche Dinge …“, antwortete der Priester und öffnete die Truhe. „Die Waren sind ordnungsgemäß in den Dokumenten verzeichnet.“
Der Vorsteher nickte und fing an, den Inhalt zu durchwühlen.
„Irgendwelche Zwischenfälle während der Überfahrt?“, fragte er, ohne den Priester anzusehen, und wog einen kleinen Tabakriegel in der Hand. „Irgendwelche Begegnungen mit feindlichen Schiffen oder mit Schiffen, die nicht zur Flotte ge­hören?«
„Nichts dergleichen. Alles ist nach Plan verlaufen.“
Der Vorsteher nickte.
„Eure Sklavin?“, fragte er und deutete auf Caridad, nachdem er offensichtlich die Kontrolle beendet hatte. „Sie steht nicht in den Papieren.“
„Die Frau? Nein. Sie ist frei.“
„Sie sieht aber nicht so aus“, stellte der Vorsteher fest und baute sich vor Caridad auf, die ihr Bündel und ihren Strohhut fest umklammerte.