Anna Quindlen: EIN JAHR AUF DEM LAND

Neue Wege gehen

4. März 2015
Das "Stillleben mit Brotkrümeln" war Rebecca Winters Durchbruch als Fotografin. Doch das ist lange her und jetzt, mit fast 60 Jahren, wird das Geld knapp. Sie ist gezwungen, New York zu ­verlassen und aufs Land zu ziehen – was ihr unverhofftes Glück und neue Inspiration beschert. Eine Leseprobe aus Anna Quindlens Roman "Ein Jahr auf dem Land".

Rebecca besaß selbst kein Poster des „Stilllebens mit Brotkrümeln“. Ihr war auch seit Jahren keines mehr untergekommen, abgesehen von diesem Film über eine Gruppe Frauen, die sich ein Haus teilten und gemeinsam mithilfe von Yoga und Sex ihr Selbstwertgefühl wiederfanden – da hing es an der Wand. (Zu ihrer Verteidigung muss man sagen, dass der Film im Flieger gelaufen war und sie sonst kaum auf ihn geachtet hatte.) Trotzdem hatte sie jahrelang von ihm und seinen Abkömmlingen, den Nachdrucken und den Abdrucktantiemen, ebenso gelebt wie von seinem Ruf, der sich längst verselbstständigt hatte. Es hatte Bens Internat bezahlt und die geräumige Wohnung, die sie nach der Scheidung bezogen und gerade untervermietet hatte, es hatte Reisen nach Paris (zum Musée d’Orsay) und London (zur Tate Modern) finanziert. Es war für Restaurantrechnungen aufgekommen und für die Trinkgelder beim Friseur, und sie hatte eigentlich nie gemerkt, wie viel Geld es tatsächlich einbrachte, bis die Quelle schwächer sprudelte und schließlich ganz versiegte.

Ihre zweite Fotoausstellung war damals als „Küchentisch-Serie“ betitelt und allgemein als bahnbrechender Moment weiblichen Kunstschaffens betrachtet worden. In Wahrheit war Rebecca zu der Zeit, als sie die Fotos (vor über zwanzig Jahren) gemacht hatte, einfach nur erschöpft gewesen, so erschöpft, wie eine Frau mit einem Kind und einem Mann und einem Haus und einem Beruf und einem Leben eben irgendwann ist, sodass es sich anfühlt wie eine leichte chronische Krankheit. Sie war sechsunddreißig Jahre alt, ihr Kind war klein, und ihr Mann hatte für Männer, die im Haushalt halfen, nur Verachtung übrig. „Peter ist ja so europäisch“, sagten andere Frauen zu ihr, und später fragte sich Rebecca, ob sie ihr damit wohl auf subtile Weise sagen wollten, dass er in der Gegend herumschlief. Aber das kam später.

Eines Abends hatte Ben Mittelohrentzündung, und als sie ihm endlich das Antibiotikum mit Kaugummigeschmack eingeflößt und ihn zum Schlafen gebracht hatte, tauchte Peter auf, in Begleitung zweier Unikollegen nebst Ehefrauen. Es gehörte zu seinen bevorzugten Spielchen, einfach unangekündigt Gäste zum Abendessen mitzubringen, die sich dann wortreich entschuldigten, ganz im Gegensatz zu Peter. Er schien das eher als Test zu betrachten, wie viel man ihr zumuten konnte. „Ich werde ja wohl nicht fragen müssen, ob ich in mein eigenes Haus Besuch mitbringen darf“, hatte er erklärt, als sie sich einmal beschwert hatte.

Nachdem schließlich alle beschwipst in die Nacht hinausgetorkelt waren, nicht ohne noch Komplimente für das Ossobuco (das sie aus genau solchen Gründen im Tiefkühlschrank vorrätig hielt) und den Schokoladenkuchen ohne Mehl (siehe oben) über die tweedbewehrten Schultern zu rufen, war Peter gleich ins Bett gegangen, wie immer in der festen Überzeugung, dass Küchen sich irgendwann in den geisterhaften Stunden zwischen Cognac und Morgenkaffee wie von Zauberhand alleine aufräumten. Rebecca hatte eine kurze Pause gebraucht, bevor sie den Abwasch in Angriff nahm, und sich auf das neue, hochmoderne Sofa gelegt, so unbequem mit seinem Röhrengestell und der klaren Linienführung, dass man darauf wirklich nur einschlafen konnte, wenn man so kaputt war wie sie. Im Morgengrauen wurde sie von einem schmalen Streifen Sonnenlicht geweckt, der durch das Wohnzimmerfenster hereinfiel, noch ehe Ben zu brüllen anfing, weil er aus dem Bett befreit werden wollte, und sie hatte nach ihrer neuen Hasselblad gegriffen, die ihr Vater ihr geschenkt hatte, und einfach drauflosfotografiert.

Im Grunde wusste sie nicht, warum, warum gerade das und gerade dann. Das hatte sie nie gewusst, weder vorher noch nachher. Als Künstlerin war man gezwungen, zielgerichtet und selbstsicher über die eigene Kunst zu reden, doch das war ihr immer fremd gewesen. Im Lauf der Jahre hatte sie sich eine ganze Reihe von Gründen ausgedacht, weil die Willkür der Realität bei den Leuten anscheinend nicht allzu gut ankam. Sie wollten auch alle nicht glauben, dass sie einfach nur fotografiert hatte, was sie vorfand: eine leere Flasche, die auf der Seite lag und an deren geschwungenem Rand noch ein Tropfen Olivenöl schimmerte, eine Handvoll öliger Gabeln, die im Schein der Deckenlampe glänzten, und natürlich das Bild, das später „Stillleben mit Brotkrümeln“ heißen sollte, eine entfernt flämisch anmutende Komposition aus benutzten Weingläsern, gestapelten Tellern, den abgerissenen Resten zweier Baguettestangen und einem Küchentuch, dessen eine Ecke von der Flamme des Gasherds ein wenig angesengt war.

Dann hatte sie noch das Glück, dass der Dekan der kunstgeschichtlichen Fakultät einer Universität die Fotos als „Hausfrauenbilder“ bezeichnete, worauf die Direktorin des Instituts für Frauenforschung ihn als frauenfeindlich beschimpfte; die darauffolgende studentische Protestkundgebung, bei der die Studentinnen T-Shirts mit dem Foto trugen, bekam einige öffentliche Aufmerksamkeit. Kein halbes Jahr später war Rebecca Winter zur feministischen Ikone avanciert, ihre Küchentisch-Serie wurde von Kunstkritikern und Essayisten gleichermaßen als Überhöhung und Verurteilung des weiblichen Lebens und des weiblichen Tätigkeitsfelds gefeiert. Nachahmerinnen legten Fotos von Hühnerknochen, Küchensieben, ja sogar von Schnullern und Windeln vor, doch Rebeccas Bild thronte jahrelang auf dem Ehrenplatz, es erschien auf den Titelseiten von Zeitschriften, auf Postkarten, T-Shirts und sogar auf einer ironischen Werbeanzeige zum Muttertag.