Petra Mikutta: SIE WERDEN LACHEN. MEIN MANN IST TOT

Ein Überlebensbuch

15. April 2015
Es ist Ostersonntag, als ihr Mann vom Fahrrad stürzt und stirbt – unerwartet, unbegreiflich. Einige Monate später beginnt sie, dieses Buch zu schreiben, und erfährt, dass Trauer nicht nur Schmerz, sondern auch Kraftquelle sein kann. Eine Leseprobe aus Petra Mikuttas Buch "Sie werden lachen. Mein Mann ist tot".

Tag vier nach seinem Tod
Für den Testlauf schlüpfe ich in Boots. Morgen will ich es auf Absätzen bis ins Büro schaffen. Heute bin ich für Schuhe, die mir zu einer aufrechten Haltung verhelfen, zu schlecht ausbalanciert. Ich falle in mich zusammen, ziehe eine Wollmütze tief ins Gesicht und verkrieche mich bis zu den Ohren in meinem schwarzen Wintermantel.
Das erste Mal seit dem Tod meines Mannes verlasse ich die Wohnung, geschrumpft und mit gesenkten Lidern, nicht nur wegen der Tauben über mir, die mich mit ihrem Paartanz verhöhnen. Passanten rasen vorüber. Autos fliegen. Ich bewege mich in Zeitlupe in einem Film, der zu schnell abgespielt wird.
Wie soll ich den Supermarkt nebenan betreten und den Kassiererinnen, die meinen Mann und mich als namenlose Kunden kennen, in die Gesichter sehen?
Ich hüte ein hässliches Geheimnis.
Wie geht es Ihnen?
Sehr schlecht.
Oh, warum denn, die Tage werden doch schon wieder länger und wärmer?
Mein Mann ist vor vier Tagen gestorben, ganz plötzlich.
Es ist grausam, den Satz abzufeuern. Fast jeder, Experten wie Ärzte, Soldaten oder Auftragsmörder ausgenommen, ist ihm schutzlos ausgeliefert. Wenn er trifft, zuckt man zusammen, die Pupillen weiten sich, der Blutdruck sinkt ab. Sogar die Abgebrühten schaudern, wenn ihnen plötzlich der Tod in den Nacken atmet.
Ich bin zu schwach, um zu lügen, und will niemanden quälen. Also halte ich mich bedeckt und mache Bögen. Kaum zwanzig Meter weit schaffe ich es, bis zur Kreuzung.
Ich bin eine Frau mit Sonnenbrille, die an einem trüben Nachmittag an der grünen Ampel stehen bleibt, sich am Mülleimer, der an ihrer Säule befestigt ist, festhält und schluchzt. Niemand bemerkt mich. Ich bemerke niemanden.
Ich bin nicht von dieser Welt.
Ich bin verloren.

„Was hast du?“
Der mich findet, ist etwa Anfang zwanzig, schmächtig, einen halben Kopf kleiner als ich. Er hat einen geschorenen Schädel, rasierte Brauen und schwarze Augen, die verschlagen starren, wie er es, vermute ich, aus Rap-Videos kennt. Er trägt eine billige Lederjacke. Sie ist viel zu dünn für die Kälte, gibt ihm jedoch etwas Schneidiges. Er riecht wie einer, auf den eine Frau mit glitzernden künstlichen Fingernägeln wartet. Sie ist eine Frau, von der er sich vorstellen kann, sie eines Tages, vielleicht in einem halben Jahr, zu heiraten.
„Das willst du nicht wissen.“
„Wenn ich nicht wissen will, ich frag nicht. Also sag.“
Er spricht mit dem türkischen Akzent, den Komiker lustig finden. Ich sage es.
Er zuckt nicht, und es ist nicht Schrecken, den ich in dem fremden Gesicht lese. Es ist etwas anderes, mit dem ich nicht gerechnet habe, es sind Wärme und Mitgefühl.
Er nimmt mich in die Arme.
„Ach du Scheiße“, sagt er.
Er sagt es im Rhythmus meines Schluchzens, das die Straße, die Ampel, Autos, Fußgänger, Häuser, Himmel, seinen Drogerieparfumgeruch und mich fortspült.
„Ach du Scheiße.“ Die Wörter erreichen mich, als wären wir unter Wasser.
Er hält mich fest, es kostet ihn Kraft. Seine Umarmung ist eine Folge von Wellen. Sie zerren zwingend und zielstrebig an mir, als wisse er genau, was er tut.
Er schwimmt mit mir an die Oberfläche.
Schnaufend, triefend und frierend erreiche ich sie.
Ich löse die Umarmung und sehe, dass ich einen großen, nassen Fleck auf dem Revers hinterlassen habe.
„Das tut mir leid“, sage ich.
„Kein Problem“, sagt er.
„Dann. Danke.“
„Kein Problem“, sagt er wieder. „Du machst das schon“, und er stürmt auf die andere Straßenseite.
Im Supermarkt habe ich sein Gesicht vergessen. Das Parfum haftet noch an meinem Mantel, und ein Rest der Wärme hat sich im Stoff verfangen.
Du machst das schon.
Ich brauche den Satz im Supermarkt auf, als ich nach einem Apfel und einer Tüte Reismilch greife und mich an der Kasse anstelle. Die Choreografie ist kinderleicht und jahrzehntelang trainiert. Jetzt bringt sie mich an körperliche und geistige Grenzen, jeder Schritt, jeder Atemzug, jede zufällige Berührung, die Fingerübung, den Druckknopf und die Klappe meines Portemonnaies zu öffnen, sind eine Tortur.
Wie einer Ballerina gelingt es mir, mir die Anstrengung nicht anmerken zu lassen.
Ich funktioniere gut genug, um nicht aus der Reihe zu tanzen. Und wenn ich wanke, fängt mich jemand auf. Das ist mehr, als ich erwartet habe. Der Testlauf ist gelungen.
Die Kassiererin lächelt mir zu.
Sie wird die Todesanzeige meines Mannes lesen und nicht einmal wissen, dass er der Verstorbene ist, den Angehörige, Freunde und ich lieben und um den sie trauern, wie es schwarz auf weiß zu lesen ist.
Ich wünschte, der Tod ließe mit sich handeln.
Nimm sie statt ihn, nimm die Kassiererin, diesen fetten, süßen Brocken!
Eine meiner Freundinnen in New York hat sich selbst die Kehle durchgeschnitten. Sie setzte das Rasiermesser zu zaghaft an, oder es war zu stumpf. Monatelang lag sie im Wachkoma in einem bezahlbaren Pflegeheim in einem Stadtteil, den Taxifahrer nicht ansteuerten. Die Flure rochen nach Urin und Suppenextrakt. Schwestern mit müden Gesichtern steckten Schläuche und Nadeln in meine Freundin. Das Leben tropfte durch Löcher in sie hinein. Es war erbärmlich.
Der Tod brachte ihr die Rettung.
Als Gegenleistung im Tauschhandel mit ihm würde ich der Kassiererin, ohne zu zögern, die Kehle durchschneiden. Mit Ausnahme der Kinder würde ich jedem die Kehle durchschneiden, und zwar mit aller Kraft.
Ich blecke die Zähne.
Sie klappern vor Grauen und Kälte.
Morgen, im Büro, werde ich versuchen, ihnen zu entkommen.

"Fröhlichkeit und Trauer gehen zusammen"
Frau Mikutta, wie kam es zu diesem Buch?
Mein Mann ist gestorben, unerwartet, unbegreiflich. Ich fand mich in einem unbekannten Niemandsland wieder, hatte so viele Fragen: Wie haben andere diesen Schock erlebt? Was waren ihre Erfahrungen? Wie kann ein glückliches Leben nach einem solchen Verlust aussehen? Ich habe kein Buch gefunden, das diese und viel mehr Fragen klar beantwortet hat. Also habe ich es geschrieben, so dicht an meinen Gefühlen und Erfahrungen wie möglich.

Was steckt hinter dem leicht irritierenden Titel?
Er erzählt eine Entwicklung, mit der ich nicht gerechnet habe und
die tröstlich ist. Ich dachte damals: Alle anderen Menschen werden lachen, ich nie wieder. Das war in den ersten Tagen nach dem Tod meines Mannes meine Reaktion auf lachende Menschen, es war eine Anklage. Und dann, nach kaum einer Woche, brachte mich meine Tochter zum Lachen. Es hat sich überraschend gut mit den Tränen vertragen. Ich erkannte die Richtung, in der ein Ausweg liegen könnte. Fröhlichkeit, Leichtigkeit, Offenheit, Trauer, das geht zusammen.