Christoffer Carlsson: DER TURM DER TOTEN SEELEN

Experte für das Verbrechen

10. Juni 2015
Christoffer Carlsson ist Kriminologe und Schwedens neuer Krimistar. Sein Roman „Der Turm der toten Seelen“ ist Auftakt zu einer Serie um den Polizisten Leo Junker.

Christoffer Carlsson ist einer, der es eilig hat im Leben. Krimisüchtig wurde er als Elfjähriger, nachdem ihm sein Großvater Mankells Wallander-Krimi „Die fünfte Frau“ schenkte – nicht unbedingt altersgemäß. Mit elf schickte er sein erstes Manuskript an drei Verlage und kassierte eine aufschlussreiche Absage: Da es sich um ein Erwachsenenbuch handele, sei er beim Kinderbuchverlag Opal nicht an der richtigen Adresse. Nach dem Abitur studierte Carlsson Kriminologie, promovierte und bekam anschließend nicht nur sofort einen Lehrauftrag an der Universität Stockholm, sondern mit 26 Jahren auch den internationalen „Young Criminologist Award“. Seine wissenschaftliche Karriere hindert ihn nicht am Schreiben: Vier Krimis sind es inzwischen und alle – wie könnte es anders sein – extrem erfolgreich. Für seinen dritten Roman „Der Turm der toten Seelen“ erhielt Carlsson 2013 den renommierten Schwedischen Krimipreis – als jüngster Gewinner, den es jemals gab.

Und mit diesem Buch stellt sich der schwedische Überflieger nun den deutschen Lesern vor. Auf sie wartet ein Roman, der weniger auf reißerische Effekte und Action als auf Psychologie und Spannung setzt – Lektüre für Krimi-Feinschmecker. Überdies lässt sich der inzwischen 28 Jahre alte Autor, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, viel Zeit mit seiner Story um den Ermittler Leo Junker: „Der Turm der toten Seelen“ ist Auftakt zu einer auf mehrere Bände angelegten Serie. „Hinter jedem vordergründigen Verbrechen, das Leo aufdeckt, liegt noch ein weiterer verdeckter Fall aus der Vergangenheit“, sagt Christoffer Carlsson im Interview. „Ein Fall, der im ersten Buch nur erahnt werden kann, der sich im Laufe der Serie zu einem spektakulären Verbrechen in den höchsten Kreisen der Macht entwickelt.“

Polizist am Abgrund
Leo Junker, der die Geschichte aus der Ich-Perspek­tive erzählt,  ist ein junger Polizist, dessen Leben komplett aus den Fugen geraten ist. Seit er bei einem Undercover-Einsatz unabsichtlich einen Kollegen erschossen hat, ist er vom Dienst suspendiert. Gegen seine Angstattacken schluckt der 31-Jährige Tabletten und trinkt Absinth. Seine Freundin, eine begabte Tätowiererin, hat ihn verlassen und Leo wird von den Gespenstern der Vergangenheit geplagt. Eines Nachts weckt ihn das Blaulicht eines Polizeiautos: In der Wohnung im Erdgeschoss wurde eine drogenabhängige junge Frau ermordet. Leo verschafft sich unerlaubt Zutritt zum Tatort und bemerkt eine kleine Kette in der Hand der Toten – ein Schmuck, den er von seiner früheren Freundin Julia kennt, die vor 15 Jahren zu Tode gekommen ist. Diese Entdeckung katapultiert Leo zurück in seine Jugend im tristen Stockholmer Vorort Salem, in eine Zeit, in der er sich regelmäßig mit seinem Freund John Grimberg, genannt Grim, auf einem alten Wasserturm traf. In langen Rückblenden erinnert sich Leo an jene Zeit, die von Gewalt bestimmt war, von Mobbing, Alkohol und kaputten Familien. Aber auch von Freundschaft und Verrat – und von einer Liebe, die nicht entdeckt werden durfte.

Doch was haben die Ereignisse der Vergangenheit mit dem Verbrechen von heute zu tun? Und wer will ihm den Mord unterschieben? Denn auf der Kette in der Hand der Toten finden sich Leos Fingerabdrücke. Die Suche nach Antworten gibt Leo Junkers Leben neuen Sinn, reißt ihn aus seinen Depressionen – bis zur Lösung des Falls, der in einem furiosen Finale mündet.

Virtuos durchkreuzt Christoffer Carlsson in seinem Roman das übliche Täter-Opfer-Schema, zeigt als Experte für das Verbrechen, was Gewalt anrichten und wie schmal der Grat zwischen Schuld und Unschuld sein kann. Dabei interessieren ihn als Kriminologen, wie er sagt, „die Gründe, die hinter den Verbrechen liegen, fast noch mehr als die Straftaten selbst“. Dass er sein Forschungsmaterial zum Stoff für Geschichten machen könnte, kommt für ihn nicht infrage. „Ich würde nie über konkrete Fälle schreiben, das wäre ethisch nicht in Ordnung.“

Mit seiner psychologischen Raffinesse und dem sozial­kriti­schen Anspruch wird Carlsson schon heute in die große Tradition skandinavischer Krimiautoren wie Henning Mankell, Karin Fossum oder des legendären Duos Sjöwall / Wahlöö gestellt. Und man darf gespannt sein, wie es mit Leo Junker weitergeht. Einen kleinen Hinweis gibt Christoffer Carlsson selbst: „Im zweiten Band geht es um Freundschaft, Verrat und radikale Randgruppen in der Gesellschaft.“ Von diesem jungen Autor dürfen Krimifreunde, daran besteht kein Zweifel, noch einiges erwarten.