Andreas Gruber: TODESMÄRCHEN

Leseprobe

17. August 2016
Der exzentrische Profiler Maarten S. Sneijder vom BKA Wiesbaden und seine junge Kollegin Sabine Nemez ermitteln in einer grausamen Mordserie. Alles deutet auf den Serienmörder Piet van Loon hin, der seit fünf Jahren im Gefängnis sitzt. Welches blutige Spiel treibt der hochintelligente Verbrecher mit den Ermittlern? 

Sabine und Sneijder landeten um vierzehn Uhr in Bern, wo sie von einem Beamten der fedpol in einem schwarzen Van abgeholt wurden.
„fedpol ermittelt?“ war Sneijders einziger Kommentar zu dem Fahrer, der bloß nickte und ihr Gepäck im Auto verstaute.

Sabine hatte nur ihren Trolley gepackt mit ihrem Notebook und Kleidung für eine Woche. Sneijder hingegen reiste mit einem großen Schrankkoffer auf vier Rollen, den er mit einem alten Ledergurt zusammengebunden hatte. Anscheinend hatte er sein gesamtes mobiles Büro dabei.
Der Wagen war klimatisiert, was aber gar nicht nötig gewesen wäre, da sich dunkle Wolken über die Berge schoben. Die Fahrt in die Berner Innenstadt dauerte eine halbe Stunde. Sabine schrieb ihrer Schwester eine kurze SMS, dass sie ihren Besuch verschieben musste und sie später, wenn sie ungestört reden konnte, anrufen würde.

Währenddessen telefonierte Sneijder und verschickte einige SMS. Sabine bekam nur mit, dass er seine Vorträge an der Akademie absagte, die nun Kollegen von ihm übernehmen mussten. Das hatte Sabine in den letzten zwei Jahren öfter erlebt. In einem Semester war Sneijder sogar mal einen ganzen Monat lang weg gewesen. Und jedes Mal, wenn er nach einem erfolgreichen Einsatz wieder zurückgekommen war, hatte sein Gesicht diese kranke Blässe verloren. Die Mörderjagd wirkte auf ihn wie ein Gesundheitselixier. Und wenn sie ihn so betrachtete – die eingefallenen Augen und die von Cluster-Kopfschmerzen angespannten Schläfen –, wurde es höchste Zeit, dass er wieder einen Killer zur Strecke brachte.

Nachdem sie eine Zeit lang die Aare entlanggefahren waren, erreichten sie einen von Polizeiwagen abgesperrten Bereich. Links lag die halbinselförmige Altstadt, rechts führte eine alte Steinbrücke mit drei Rundbögen auf die andere Seite der Stadt. Ihr Fahrer hielt mit dem Van vor der Brücke.
Sabine und Sneijder stiegen aus. Sogleich empfing sie ein überraschend kalter Wind. Nicht weit entfernt am Ufer standen zwei Feuerwehrwagen und ein großer Baukran. Die Feuerwehrleute hatten ein Gerüst neben der Brücke montiert, das aussah wie eine behelfsmäßige Brücke der Bundeswehr.
„Sie werden jetzt gleich Rudolf Horowitz kennenlernen“, sagte Sneijder. Es klang wie eine Drohung. „Er ist ein wenig … na ja, verschroben. Tragen Sie seine Launen mit Fassung.“
„Verschrobener als Sie?“, fragte Sabine. Das konnte doch wohl nur ein Scherz sein. „Sind Sie verwandt?“ 
Sneijder sah sie emotionslos an. „Tun Sie mir einen Gefallen und versuchen Sie in meiner Gegenwart …“
„… nie wieder, lustig zu sein“, vollendete Sabine den Satz.
Sneijder wandte sich wortlos um.
Ein Mann um die siebzig mit grauem Haarkranz kam ihnen in einem Rollstuhl entgegen.
„Ist er das?“ Sneijder nickte.
„Er ist …“
„Querschnittgelähmt“, erklärte Sneijder. „Vor fünf Jahren erwischte ihn eine Kugel im Rückgrat. Das Projektil hat den vierten Lendenwirbel zertrümmert, ist im Knochen stecken geblieben und hat das Rückenmark vollends zerstört.“
Sneijder weiß ziemlich genau darüber Bescheid. „Nein, das meinte ich nicht. Er ist … alt.“
Sneijder sah sie kurz an. „Ich würde es erfahren nennen.“
Sie gingen an einem halben Dutzend Dienstfahrzeugen vorbei sowie an jeder Menge Polizisten, Ermittlern und Feuerwehrleuten, die Sneijder großzügig ignorierte. Sabine spürte regelrecht die erwartungsvollen und neugierigen Blicke der Leute in ihrem Rücken.
Im nächsten Moment war Horowitz bei ihnen. Er reichte Sneijder die Hand, und dieser drückte sie fest.
„Wir haben uns seit über dreieinhalb Jahren nicht gesehen. Deine Besuche haben aufgehört“, sagte Horowitz.
„Ich hatte viel zu tun.“
„Sieht man, alter Freund, du bist hässlich geworden.“
Sneijder antwortete nicht, was so gar nicht seine Art war. Offensichtlich war Horowitz jemand, der gut mit Sneijders Macken umgehen konnte, da er selbst ein schrulliger Kauz war, und so etwas respektierte Sneijder.

Horowitz wurde ernst. „Ich habe gehört, dein Lebensgefährte ist verstorben. Tut mir leid.“
„Ist lange her. Immunschwäche. Ich bin darüber hinweg.“ Sneijder warf Horowitz einen Blick zu. „Aber mach dir keine allzu großen Hoffnungen, du bist mir zu alt.“ Horowitz grinste. „Du hast dich nicht verändert. Willst du mir nicht deine junge Begleiterin vorstellen?“
„Nemez – Horowitz, Horowitz – Nemez“, sagte Sneijder. „Ist die Leiche dort unter der Brücke?“ Er trat auf das Eisengerüst.
Horowitz nickte Sabine kurz zu. „Ja. Wurde heute gegen sieben Uhr früh entdeckt.“
Während Sneijder zum ersten Brückenbogen ging, vollführte Horowitz im Rollstuhl eine Drehung. „Nehmen Sie es dem alten Knaben nicht krumm“, flüs­terte Horowitz. „Er ist manchmal etwas verschroben. Rudolf Horowitz.“ Er reichte Sabine die Hand.
„Sabine Nemez“, sagte sie. Sein Händedruck war fest, die Haut vom Lenken des Rollstuhls rau.
„Ich wusste gar nicht, dass er eine Partnerin hat.“
„Seit heute. BKA-Präsident Hess hat entschieden, dass er im Team arbeiten soll.“
„Sneijder und … im Team?“ Horowitz lachte. „Das ist wohl wieder eine Schikane vom guten alten Hess.“
Sabine nickte. Anscheinend war das angespannte Verhältnis der beiden Männer bis über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Soweit Sabine wusste, hatte Sneijder der Ehefrau von Hess vor vielen Jahren das Leben gerettet, als dieser als Sicherheits-Chef ­einer Konferenz kläglich versagt hatte. Sneijder hatte seinem Vorgesetzten Unfähigkeit vorgeworfen, was ihm Hess bis heute übel nahm. Im Gegenzug wartete Sneijder auf ein lapidares Danke von Hess – was natürlich nie gekommen war. Zum Glück stand Sneijder seitdem unter dem persönlichen Schutz von Hess’ Ehefrau Diana, sonst hätte Hess ihn wegen seiner Eskapaden schon längst vom Dienst suspendiert.
„Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Tatort.“ Horowitz griff nach den Rädern seines Rollstuhls und fuhr über das Metallgerüst.
Sabine folgte ihm. Als sie den ersten Brückenbogen erreichten, hielt Sabine unwillkürlich den Atem an. Unter dem dunklen Rundbogen baumelte eine nackte Frau einzig und allein an ihrem Haarschopf. Ihr Gesicht war abgewandt, doch Sabine schätzte sie auf etwa fünfzig Jahre. Die lange schwarze Mähne war irgendwo an der Decke des Brückenbogens festgemacht worden. Zwei Krähen, die sich von Sneijders Anwesenheit nicht abschrecken ließen, hockten auf den Schultern der Toten und pickten in ihr Fleisch.
Jeder andere Ermittler, den Sabine kannte, hätte die Krähen sofort verscheucht, doch Sneijder stand nur regungslos da und beobachtete die Szene.
„Hat den Tatort schon jemand betreten?“, flüsterte Sneijder, um die Vögel nicht aufzuschrecken.
„Ja, ein paar Leute von der Spurensicherung“, antwortete Horowitz, „aber ich habe sie wieder weggeschickt.“ Sneijder nickte unmerklich. „Hast du eine Taschenlampe?“

Horowitz fuhr näher und reichte ihm eine kleine Stabtaschenlampe, mit der Sneijder die Pfeiler und die Unterseite der Brücke beleuchtete. Er streckte den freien Arm aus, spreizte die Finger, als wollte er den Wind spüren, und inhalierte hörbar das Sammelsurium aus Gerüchen, das unter der Brücke vorherrschte.
Jeder Leichenfundort hatte seine eigene unvergleichliche Atmosphäre, wie Sneijder immer behauptete. Wie ein verwundetes Wesen im Todeskampf, dessen Lebensatem von Minute zu Minute schwand, bis er unwiederbringlich verloren war. Sneijder musste diese Tatorte für sich allein haben, bevor die Kollegen mit ihren Überziehern durchmarschierten und die Atmosphäre zerstörten.