Wolfram Eilenberger: ZEIT DER ZAUBERER

"Eine neue Welt denken"

28. Februar 2018
Wittgenstein, Heidegger, Benjamin, Cassirer: Über den Einfluss dieser Philosophen im Jahrzehnt zwischen 1919 und 1929 hat Wolfram Eilenberger ein faszinierendes Buch geschrieben.

Der Erste Weltkrieg hinterließ erschütterte, desillusionierte Menschen. Gleichzeitig schien die Welt danach voller ­Möglichkeiten. Hat das auch die Philosophie beflügelt?
Ich glaube, diese Schwellensituation hat die Helden meines Buchs beflügelt. Die alte Welt und deren Leitwerte waren fragwürdig geworden, zugleich konnte man sich neu erfinden und eine neue Welt denken. Es war also einerseits eine Rückschau, die mit Depressionen verbunden war, aber auch eine Befreiung, die neue Denkenergien freigesetzt hat.

Hat sich die Energie der Zeit also in die Bücher der vier Philosophen, die Sie betrachten, eingeschrieben? 
Die Kriegserfahrung war für jeden der vier Männer auch ein biografischer Einschnitt. Walter Benjamin musste nach der Promotion überlegen, was er jetzt mit seinem Leben anstellt. Ludwig Wittgenstein kehrte aus dem Krieg zurück und verschenkte all sein Geld. Martin Heidegger, der ebenfalls aus dem Krieg heimkehrte, musste um eine philosophische Stelle bangen. Ernst Cassirer nahm 1919 seinen Lehrstuhl in Hamburg an. 

Warum betrachten Sie ausgerechnet diese vier Männer?
Auf einer Liste der prägenden Philosophen des 20. Jahrhunderts mit zehn Namen würden diese vier immer stehen. Sie gehören zu den einflussreichsten Denkern nicht nur der Philosophie, sondern der gesamten Geistes- und Kulturlandschaft. Zudem können sämtliche philosophische Strömungen, die heute noch wichtig sind, auf diese vier Männer zurückbezogen werden. Heidegger ist der Vater des Existenzialismus und war prägend für die französische Philosophie, Wittgenstein ist die Urfigur der analytischen Philosophie, Benjamin der Vater der Kritischen Theorie und der Frankfurter Schule. Und das, was heute in Deutschland Kulturwissenschaft genannt wird, ist ohne Ernst Cassirer gar nicht denkbar. 

Das ist eine sehr deutsche oder zumindest eine sehr deutschsprachige Sicht. 
Diese zehn Jahre sind die letzten großen Jahre der deutschsprachigen Philosophie. Der deutschsprachige Raum war in dieser Zeit auch in der Literatur, der Physik und der Chemie prägend – ein Raum, in dem wahnsinnig viel passiert ist. 1933 bricht das alles ab. So ist es auch ein Buch über die letzte Phase, in der die deutsche Sprache die prägende Sprache des Geistes war – im Grunde ein Porträt der letzten großen Epoche der deutschsprachigen Philosophie. 

Sie erzählen vom legendären Aufeinandertreffen von Heidegger und Cassirer 1929 in Davos. Davon abgesehen hatten die vier aber kaum Umgang miteinander. Ein Problem für den Autor?
Nein, diese vier sind vor geteilten Problemhintergründen eigene Wege gegangen – durchaus auch in Beobachtung des anderen. Der persönliche Kontakt ist mithin nicht unbedingt das Entscheidende. Das Buch geht davon aus, dass es kreative Felder gibt, in denen sich verschiedene Individuen verschieden bewegen. Sie haben an den gleichen Problemen gearbeitet. Weil sie ganz verschiedene Personen waren, sind sie auch zu ­verschiedenen Schlüssen gekommen.

Wie eng verschlungen sind Leben und Denken dieser Philosophen? 
„Zeit der Zauberer“ ist auch ein Buch darüber, was es heißt, ein Leben philosophisch zu führen. In der akademischen Philosophie wird heute gern so getan, als ob es zwischen Leben und Denken gar keine Verbindungen gäbe. Man ist eben Philosophieprofessor, könnte aber ebenso gut eine Bank leiten. Diese vier Männer sind idealtypische Verkörperungen davon, was es bedeutet, wenn Denken und Leben eng verzahnt sind. Die Impulse für das Denken kommen aus konkreten Lebenserfahrungen und die Art und Weise, wie diese bedacht werden, wirken auf die Lebensführung zurück. 

Auch wir leben in einer Umbruchphase. Können diese vier Philosophen helfen, unsere Zeit besser zu verstehen?
Absolut. Die vier sind keine historischen, keine toten Gestalten. Es sind für mich Zeitgenossen, die ich immer wieder konsultiere, wenn ich versuche, mich in meiner Zeit zu orientieren. Die Anspannungen, die Innovationen, das Gefühl der Desorientierung seinerzeit – all das sind Zeitgeistphänomene, die unmittelbar auf unsere Situation bezogen werden können. 

Wer von den vieren ist am prägendsten geblieben? 
Das ist schwer zu beantworten. Aber sicher sind Wittgenstein und Heidegger die bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Ihren Einfluss auf unser Denken kann man gar nicht überschätzen.