Agnès Poirier:AN DEN UFERN DER SEINE

Stadt der Liebe und des Lichts

1. März 2019
Eine Metropole, die Intellektuelle und Künstler magnetisch anzog: Agnès Poirier erweckt das Paris der 1940er Jahre zum Leben – das pulsierende, avantgardistische und leuchtende Zentrum Europas.

Sehnsuchtsort, Fluchtpunkt, Schauplatz amouröser Verstrickungen und leidenschaftlicher intellektueller Auseinandersetzungen: So präsentierte sich Paris zwischen 1940 und 1950. Hier entwickelten Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir den Existenzialismus, Albert Camus dachte über den humanistischen Sozialismus nach, und eine Prostituierte inspirierte Samuel Beckett zu dem Titel seines Theaterstücks „Warten auf Godot“. Dichter und Denker, Träumer und Weltverbesserer, Journalisten und Lebenskünstler aus aller Welt strömten nach Paris: Ihre Schicksale lässt Agnès Poirier mitreißend lebendig werden.

Klug und spritzig erzählt sie von den Menschen, die diese Stadt prägten und von ihr geprägt wurden. Vor dem Hintergrund der Kriegs- und Nachkriegswirren entführt Poirier ihre Leser in existenzialistische Kellerbars und zu Diskussionen im Café de Flore, sie verfolgt Liebesgeschichten, ideologische Kämpfe und emanzipatorische Bemühungen und zeichnet das Bild einer Metropole, deren Charme sich niemand entziehen kann. Selbst Saul Bellows oft geäußerte Verachtung für Paris war, wie Poirier schreibt, „auf merkwürdig verdrehte Weise Ausdruck seiner Bewunderung, wenn nicht gar Liebe“. 

Irene Binal

Als der Krieg 1945 zu Ende ist, setzt das unter den Künstlern sofort Energie frei – endlich können sie lange geplante Projekte realisieren! Auch Sartre, de Beauvoir und ihre Mitstreiter nutzen die Gunst der Stunde für ihre neue Zeitschrift.

Leseprobe aus "An den Ufern der Seine"

Der Zweite Weltkrieg – der physische wie der in den Köpfen der Menschen – war endlich vorbei. Die Feierlichkeiten zum „VE Day“ im Mai 1945, gefolgt vom Prozess gegen Marschall Pétain und dessen Todes­urteil, sowie die Kapitulation Japans nach den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki im August 1945 bildeten einen Abschluss der fünf dunkelsten Jahre, die Millionen Heranwachsender erlebt hatten. Der Krieg war zwar zu Ende, aber seine Überreste blieben. Es gab keinen Ort, wo man sie hätte begraben können, wie Simone de Beauvoir leidenschaftlich zum Ausdruck brachte. Doch indem sie sie sezierten und analysierten, würde es den Generationen, die durch diesen grausamen Krieg geprägt worden waren, vielleicht möglich sein, eine Lehre daraus zu ziehen, sich zu befreien und ins Leben zurückzufinden. Die Zeit der Selbstgefälligkeit und Doppelbödigkeit war vorbei. Man musste Position beziehen, seine Stimme erheben, aktiv werden, auch auf die Gefahr hin, dreist und rücksichtslos zu erscheinen. Man musste sich engagieren, mit Haut und Haaren, in der Gesellschaft, in der man lebte, und der sie umgebenden Welt. Die Lehre, die man aus dem Krieg gezogen hatte, lautete: Gleichgültigkeit erzeugt Chaos. Es war Zeit, die Wirklichkeit mit glasklarem Blick zu betrachten, wenn man sie verändern wollte. Mit dem Leben zu experimentieren und mit der Liebe und Ideen, Konventionen über Bord zu werfen, sich selbst neu zu erfinden und der Welt neuen Zauber einzuhauchen, so lautete das neue Motto der Pariser Jugend.

Im Herbst 1945 war Paris schmutziger als vor dem Krieg, aber die Lichter brannten wieder und das Nachtleben in der französischen Hauptstadt suchte seinesgleichen. Die von Simone de Beauvoir beschworene „Orgie der Brüderlichkeit“ dauerte an, aber auch die Lebensmittelrationierung. Da die monatliche Weinration auf einen Liter pro Person beschränkt war, ­wurde das Nachtleben von der Euphorie der Freiheit und den hitzigen politischen Debatten befeuert. In den Läden gab es wieder Wild und Geflügel zu kaufen, aber zum dreifachen Vorkriegspreis, den sich nur die Neureichen leisten konnten. Im Herbst 1945 standen in Frankreich die ersten Wahlen seit der Zeit vor dem Krieg an. Das Ziel war klar: der Dritten Republik samt ihrer Verfassung von 1875 ein Ende zu bereiten und eine neue Republik zu gründen. Die Dritte Republik war im Juli 1940 darin gescheitert, Marschall Pétain von der Macht fernzuhalten, und war ein für alle Mal vom Makel des kollaborationistischen Vichy befleckt. Als sich Marschall Pétain 1940 zum französischen Staatsoberhaupt erklärte, versetzte dies der Dritten Republik den Todesstoß. Es war höchste Zeit, sie zu beerdigen.

„Les Temps Modernes“

Im September 1945 arbeiteten Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre mit ihrem Trupp aus Schülern und Freunden Tag und Nacht an der ersten Ausgabe ihrer Zeitschrift „Les Temps Modernes“. Die Idee dazu wurde Ende 1944 geboren, und der Titel war eine Hommage an Charlie Chaplins Film „Moderne Zeiten“. Abgesehen von Camus, der mit seiner eigenen Zeitschrift „Combat“ beschäftigt war, konnten sie auf fast alle anderen ihres Zirkels zählen – ob Kommunisten, Katholiken, Gaullisten oder Sozialisten: auf Raymond Aron, den marxistischen Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty, den Anthropologen und Kunstkritiker Michel Leiris, auf Jean Paulhan, den führenden Kopf von Gallimard, ja sogar auf Picasso, der sich bereit erklärt hatte, Cover und Logo zu gestalten; des Weiteren auf eine neue Generation von Autoren, die Artikel und Ideen lieferten, wie zum Beispiel Jacques-Laurent Bost. Der britische Schriftsteller Philip Toynbee würde jeweils einen „Brief aus London“ beisteuern, und Romane und Essays, die dem Redaktionsteam besonders gut gefielen, sollten – ehe sie als Buch erschienen bzw. um potentielle Verleger darauf aufmerksam zu machen, falls noch kein Verlag zugesagt hatte – in Fortsetzungen veröffentlicht werden.

„Les Temps Modernes“ sollte ein Laboratorium für neue Ideen und eine Art Talentscout sein. Simone de Beauvoir hatte sich persönlich an den Informationsminister, den Gaullisten und résistant Jacques Soustelle, gewandt und ihn um die Zuteilung von Papier gebeten. 

Gallimard hatte sich bereit erklärt, die Zeitschrift zu finanzieren und dem Team ein kleines Büro zur Verfügung zu stellen, wo es seine Redaktionssitzungen abhalten konnte. Die erste Ausgabe war für den 1. Oktober 1945 geplant. Jean-Paul Sartre wurde zum Herausgeber ernannt, zum „Monsieur le Directeur“, und er legte Wert darauf, dass jedermann jederzeit zu ihm Zugang haben konnte. Das Projekt sollte gelebte Demokratie und eine andauernde öffentliche Debatte darstellen. Er verpflichtete sich, jeden, der um einen Termin bat, im Büro der Zeitschrift, 5, Rue Sébastien Bottin, zu empfangen, und zwar jeden Dienstag- und Freitagnachmittag zwischen halb sechs und halb sieben. Diese Zusage war zu Beginn jeder Ausgabe abgedruckt, zusammen mit der Telefonnummer Littré 28-91, unter der er zu erreichen war. Sartre hatte für die erste Ausgabe von „Les Temps Modernes“ folgende Widmung gewählt: „Für Dolorès“, ganz einfach. Simone nahm es hin, ohne mit der Wimper zu zucken.

In der ersten Ausgabe verkündete Sartre laut und deutlich, wofür „Les Temps Modernes“ stand. Die Zeitschrift sollte das Megafon sein, das ihre Gedanken weit in die Welt hinaus­tragen würde: 

„Jeder Schriftsteller aus großbürgerlichem Haus kennt die Versuchung, sich der Verantwortung zu entziehen. Für mich ist Flaubert persönlich für die Repressionen verantwortlich, die auf die Pariser Kommune folgten, denn er schrieb keine einzige Zeile, um ihnen Einhalt zu gebieten. Was ging ihn das an?, werden jetzt manche sagen. Was ging der Fall Calas

Voltaire an? Und Zola die Verurteilung von Dreyfus? Wir von ,Les Temps Modernes‘ wollen uns in alles einmischen, was zu unserer Zeit vorgeht.“

Der Ton war vorgegeben, die Haltung würde dezidiert sein, der Schreibstil furchtlos.