Gregg Hurwitz: ORPHAN X

Mörderische Jagd

3. März 2016
Evan Smoak wurde von der US-Regierung in einem geheimen Programm zum Killer ausgebildet – er soll töten, um Menschen zu retten. Doch dann steigt er aus und wird selbst zum Gejagten. Mit dem fulminanten Thriller „Orphan X“ zeigt sich US-Autor Gregg Hurwitz auf der Höhe seiner Kunst.

Seine Konten sind versteckt, seine Kontaktdaten verschlüsselt, seine Wohnungen hochgesichert: Evan Smoak hat alles im Griff. Weil er schon als Heimkind ungewöhnlich gelassen auf Unbekanntes reagierte, hat ihn sein Betreuer Jack Johns für das Orphan-Programm ausgewählt. In der geheimen, aus schwarzen US-Regierungskassen finanzierten Operation werden Waisenkinder zu menschlichen Präzisionswaffen ausgebildet. Die Orphans, allesamt hochprofessionelle Killer, schlagen bei verdeckten Einzeleinsätzen zu. Evan Smoak wirkt intern unter dem Namen ­„Orphan X“, aber die halbe Welt fahndet nach ihm als dem „Nowhere Man“. Denn niemand außerhalb des Projekts kennt seine Identität. Offiziell gibt es ihn gar nicht.

„Drittes Gebot: Beherrsche deine Umgebung.“ Solche Verhaltensregeln hat Evan verinnerlicht, seit er Kind war. Sein Erzieher Jack, dem Heranwachsenden bald ein Ersatzvater, ergänzt sie aber noch mit persönlichen Weisheiten. Die machen der einsamen Kampfmaschine später ebenso Probleme wie seine Verbundenheit mit dem Mentor. Jack hat ihn geformt, Jack ist der einzige Mensch, der alles von ihm weiß. Evan liebt ihn. Und dann töten sie seinen Meister. Orphan X steigt aus. Er beschließt, wie ein moderner Robin Hood jenen Menschen am Rand zu helfen, die nicht mehr weiterwissen. Endlich kann Evan seine blutigen Missionen vor sich selbst rechtfertigen. Als ihn jedoch die spielsüchtige Katrin um Rettung anfleht, läuft alles schief. Evan ist plötzlich selbst der Gejagte.

In einer Reihe mit Bond und Bourne
Heiligt der Zweck die Mittel? Kann ein Killer ein guter Mensch sein? Solche Seinsfragen, mitreißende Charaktere und große Erzählkunst zeichnen „Orphan X“ jenseits aller Action aus. Kino­tauglich ist das allemal: Das Studio Warner Bros. hat sich die Filmrechte längst gesichert. Gregg Hurwitz, der neben Bestsellern wie „Blackout“ auch mit Drehbüchern und Comics erfolgreich ist, stellt die Kernfrage des Romans: „Was bedeutet es für Evan, wenn er nicht perfekt ist?“ Den Shakespeare-Kenner Hurwitz, der auch ein gefragter Gastdozent ist, hat es gereizt, das Innere von Evan als „einem der größten Attentäter der Welt“ auszuleuchten. „Er kann wählen, um das Richtige zu tun. Und diese Wahl kostet ihn alles.“
US-Kritiker stellen den Thriller in eine Reihe mit Genre-Kultwerken wie Robert Ludlums „Die Bourne Identität“. Autor Chris Mooney sieht Evan Smoak als Ikone wie „Bond, Bourne und Batman“. Was hat Hurwitz inspiriert? „Ich habe Freunde, die bei verdeckten Operationen von Spezialeinheiten wie den Navy Seals oder im Auftrag von FBI und CIA mitwirkten“, sagt er. „Sie haben mir viel erzählt. Dadurch reifte meine Idee eines geheimen Elite-Ausbildungsprogramms – dem Orphan-Programm.“

Streitaxt als Briefbeschwerer
Hurwitz lebt mit seiner Familie in Los Angeles. Beim Schreiben fasst er immer wieder unter den Schreibtisch, um seine beiden Rhodesian Ridgebacks zu kraulen. Für seinen Roman hat er nicht nur mit Kampf-, Waffen- und Abhörexperten gesprochen, sondern auch viele Techniken erprobt. „Meine Leser sollen einen Logenplatz bekommen. Also muss ich hinausgehen und alle Sinne einsetzen“, befindet der 42-Jährige. „Von der Benelli-Schrotflinte bis zur 1911er-Pistole habe ich jede Waffe ausprobiert, über die ich schreibe.“ Privat besitze er keine Schusswaffen, „aber andere geschenkte Waffen wie eine Streitaxt der Navy Seals, die sehr böse ist“. Er lacht. „Ich benutze sie als Briefbeschwerer.“  Alles solle authentisch sein. Und weil zu Evans Ausbildung auch Kampfsportarten gehören, „habe ich die ebenfalls trainiert“, sagt Hurwitz. „Und ich meditiere, so wie Evan. Der Vorteil ist, dass ich dabei nicht so viele blaue Flecken kriege.“

Noch herausfordernder sei es gewesen, einen Killer im Konflikt mit seinem moralischen Kompass darzustellen. „Oder auch die verwirrenden Momente zu schildern, die der knallharte Kerl in der realen Welt erlebt“, sagt Hurwitz. „James Bond bekommen wir nie zu sehen, wie er nach Hause kommt. Jason Bourne muss keine Aufzugfahrten mit seinen Nachbarn überstehen.“ Aber Evan Smoak muss das. Und für das echte Leben kennt Orphan X keinen Code.