Oliver Scherz: SIEBEN TAGE MO

„Mit Mo ist alles hochemotional“

10. November 2023

Karls Leben ist mal schön verrückt, dann ­­wieder anstrengend chaotisch. Das liegt auch daran, dass sein Bruder eine Behinderung hat. Oliver Scherz’ neues Kinderbuch ist zugleich anrührend und voller Humor.

Wie sind Sie auf die Idee zu dieser Geschichte gekommen?
Es hat mich einfach sehr interessiert und bewegt, mich mit dieser außergewöhnlichen Geschwisterbeziehung auseinanderzusetzen. Da gibt es so viel zu erzählen. Und sie steckt voller Themen, die für die meisten in Karls Alter relevant sind: die Sehnsucht danach, selbstbestimmt zu sein, sich nach außen vertreten zu können, einen Umgang mit seinen widersprüchlichen und aufwühlenden Gefühlen zu finden. Die besondere Situation zwischen den Brüdern lässt Karl seine ganzen Fragen nur umso lauter und drängender stellen.

An vier Nachmittagen in der Woche muss Karl auf Mo aufpassen. Wie sehen diese Nachmittage aus?
Es ist ein ständiges Ringen mit den eigenen Wünschen und denen des Bruders. Beidseitig. Mo lebt voll im Moment; was ihm in den Kopf kommt, sagt er, will er, macht er. Und Karl muss diese Energie einfangen, lenken, möchte auch mal seine ­eigenen Wünsche durchbringen. Das führt zu ebenso komischen, verrückten Szenen wie zu bedrückenden und wutgeladenen Momenten. Meistens ist alles hochemotional. 

Karl wünscht sich manchmal, die Welt so einfach sehen zu können wie sein Bruder.

Oliver Scherz

Warum verschweigt Karl seinen Bruder bei Nida?
Karl hat sich zum ersten Mal verliebt. Das ist seine neue Welt. Seine eigene. Die will er nicht mit Mo teilen, der sein Leben ja sonst sehr bestimmt. Karl hat auch Angst davor, etwas von Mos Andersartigkeit könnte in den Augen des Mädchens auf ihn abfärben. Das war ein Punkt, der in meinen Gesprächen mit Geschwisterkindern bei der Recherche öfter mal genannt wurde: Die Behinderung der Schwester / des Bruders wurde vor allem dann als peinlich empfunden, wenn die erste Verliebtheit ins Spiel kam. 

Was kann Mo, das Karl nicht kann?
Karl wünscht sich manchmal, die Welt so einfach sehen zu können wie sein Bruder. Ohne dauerndes Rumgehirne. Diese Direktheit, diese Ehrlichkeit liebt er an Mo. Und irgendwann in der Geschichte stellt er fest, dass er ihn vielleicht sogar mehr braucht als andersherum. Bei all ihrer Unterschiedlichkeit: Die beiden gehören zusammen. 

Interview:
Marion Klötzer

Über den Autor

Oliver Scherz, geboren 1974, arbeitete viele Jahre als Schauspieler. Nach der ­Geburt seiner Tochter verfasste er sein erstes Kinderbuch. Seine Bücher wurden vielfach ­ausgezeichnet. 

Oliver Scherz, Philip Waechter (Ill.)
Sieben Tage Mo

Thienemann, 
176 S., 16,– €, ab 11,
ISBN 978-3-522-18648-3

Leseprobe

Wenn er vor einem stand, merkte man nicht gleich, dass er anders tickte als die meisten. Dass er so unglaublich bescheuerte Sachen machen konnte, obwohl er schon zwölf war. Sogar drei Minuten vor mir war er auf die Welt gekommen. Mein zweieiiger Zwillingsbruder. Er sah mir ziemlich ähnlich, wir waren auch fast gleich groß. Aber er trug eine Brille mit dicken Gläsern. Und wenn man ihm eine Frage stellte, konnte man in den vergrößerten Augen sehen, wie sich seine Gedanken bewegten. Langsam wie die Molche im Tümpel, wenn sie sich vor dem Winter im Schlamm eingruben. Manchmal auch blitzartig, kreuz und quer durcheinanderzuckend. 
(...)
Wir bogen auf die gepflasterte Dorfstraße, auf der früher Kutschen statt Traktoren gefahren waren. Ich sah schon unsere blaue Haustür und sehnte mich danach, mich in der Küche auf einen Stuhl fallen zu lassen, als Frau Schlüter mit ihrem Dackel von der anderen Straßenseite zu uns rüberkam. 
Mal wieder sah sie meinen Bruder gerührt an, als wäre er ein hilfloser Hundewelpe. 
„Na, wart ihr zusammen einkaufen?“, fragte sie. 
„Aiaa“, rief Mo so laut, als stünde unsere Nachbarin noch immer auf der anderen Seite. 
„Eier!“ Frau Schlüter war an seine undeutliche Aussprache schon gewöhnt. Sie schaute in seine Tragetasche. „Ich sehe, ich sehe.“ 
Dabei gab es da nichts zu sehen. Es lag bloß der Einkaufszettel darin. Den Eierkarton, der oben aus meiner Tasche guckte, übersah sie einfach. Angespannt ließ ich Frau Schlüters Getue über mich ergehen. 
„Toll, wie du deinem Bruder hilfst. Du bist ein richtig großer Junge“, sagte sie zu Mo und lächelte ihn an wie die Verkäuferin vorhin im Laden, überfreundlich und mitleidig zugleich. 
„Du bis’ ein Idiot!“, rief er ihr direkt ins Gesicht. Kein Stück leiser als eben. 
Für einen Moment wusste Frau Schlüter nicht, ob sie weiterlächeln sollte. Und ich kam ihr nicht zu Hilfe, sagte nicht: Er meint das nicht so. Er hat sich nur fast vom Zug überfahren lassen, deshalb ist er ein bisschen verwirrt. 
Stattdessen stellte ich die Tasche ab, weil es vielleicht doch noch lustig werden würde. 
„Du bis’ ein Idiot mit Kasperbacken“, setzte Mo einen drauf und Frau Schlüters rot geschminkte Wangen glühten noch mehr als vorher. 
Dafür liebte ich meinen Bruder. Er wusste genau, ob jemand etwas ehrlich meinte. Vor seinem Lupenblick konnte sich niemand verstecken. Und im Gegensatz zu mir hatte er kein Problem damit, alles, was er dachte, einfach rauszulassen. 
So einen krassen Satz hatte er unserer Nachbarin aber noch nie entgegengeschleudert. Jetzt kam eben raus, was ich vorhin verbockt hatte. Der „Idiot“ war bei ihm hängen geblieben. 
„Moritz …“, sagte Frau Schlüter irritiert. Aber dann entschied sie sich, ihn lieber nicht ernst zu nehmen und laut loszulachen. 
„Du hast ja recht!“, rief sie und gab vor, über sich selbst den Kopf zu schütteln. Sie schaute noch einmal in seine Tasche. „Bin ich blöd! Da sind ja gar keine Eier drin.“ 
Ob Erwachsene sich auch manchmal bescheuert fanden? Ob sie wie ich abends im Bett lagen und ins Schwitzen kamen, weil ihnen die peinlichen Momente des Tages einfielen? Ob Frau Schlüter dann darüber nachdachte, dass sie den behinderten Jungen von nebenan vielleicht nicht mehr behandeln sollte wie einen Idioten? Und dass sie seinem Bruder hätte sagen sollen: Wie toll, dass du diese schwere Tasche ganz alleine bis hierher geschleppt hast?
So etwas fragte ich mich, als ich nach der Tasche griff, Mo an die Hand nahm und unsere Nachbarin einfach stehen ließ. 
„Habt einen schönen Nachmittag!“, rief sie uns nach.