Katy Birchall: EMMA CHARMING

Zaubern will ­gelernt sein

5. November 2021

Emma Charming ist als Hexe ziemlich tollpatschig. Nach einigen Fehlschlägen hofft sie, endlich die Junghexenprüfung zu ­bestehen, denn dann darf sie mit ganz normalen ­Jugendlichen zur Schule gehen. Magie zu verwenden ist dort allerdings streng verboten. Aber kann ein bisschen Magie wirklich schaden?

Leseprobe

Das ist er. Der Moment, auf den ich mein ganzes Leben gewartet habe. 
Ich knie vor der Großen Hexenmeisterin, die sich nun erhebt und die Arme gen Himmel streckt. Die langen schwarzen Ärmel ihres Gewands blähen sich im Wind. Das einzige Geräusch, das die gespenstische Stille des nächtlichen Waldes durchbricht, ist das Knistern des Feuers hinter mir. Als die Große Hexenmeisterin einen Schritt auf mich zu macht, heben die anderen Hexen, die um uns herumsitzen, die Köpfe und beobachten sie erwartungsvoll.
„Emma Charming.“
Meine Hände zittern, und mein Herz klopft laut in meiner Brust. Jetzt wird es ernst. Ich blicke auf und sehe ihr in die Augen.
„Emma Charming“, wiederholt sie. „Der Hexenrat ist zu einer Entscheidung gelangt. Hiermit verkünde ich, dass …“
Sie zögert. Die anderen Hexen werfen sich gegenseitig verwirrte Blicke zu. Mir bleibt vor Aufregung die Luft weg. Warum spricht sie nicht weiter? (…)
Die Junghexenprüfung ist die wichtigste Prüfung, die man als Hexe ablegen kann, denn wenn man sie besteht, bedeutet das, dass man seine magischen Kräfte gut genug beherrscht, um auf eine öffentliche Schule gehen zu dürfen. Die anderen Hexen trauen einem dann zu, ihr Geheimnis – nämlich dass Hexen bis heute existieren – sicher zu bewahren. Einer der größten Vorteile einer bestandenen JHP ist jedoch, dass man lernen darf, auf einem Hexenbesen zu fliegen. 
Da ich bisher immer durch die Prüfung gerasselt bin, durfte ich noch nicht zur Schule gehen oder fliegen lernen. Stattdessen bin ich mein ganzes Leben lang zu Hause unterrichtet worden. Nicht, dass das besonders schlimm wäre. Dora, die beste Freundin meiner Mutter und unsere direkte Nachbarin, ist meine Hauslehrerin, und es ist immer lustig mit ihr, weil sie so verrückt ist. 
Trotzdem muss ich jeden Tag mit meinen Büchern zu Hause herumsitzen, während andere Hexen in meinem Alter zur Schule gehen und Freundschaften schließen dürfen. (…)
Eigentlich hätte ich die JHP schon vor Jahren bestehen müssen, doch aus irgendeinem Grund habe ich es immer wieder vermasselt. Vielleicht, weil ich mit dem Prüfungsdruck nicht umgehen konnte. 
Was übrigens nicht besonders toll ist, wenn man zufällig die Tochter der Großen Hexenmeisterin ist. Dadurch wirkt eine nicht bestandene Prüfung gleich tausendmal schlimmer. 
„Sei nicht albern, Emma“, sagte Mum, nachdem ich letztes Jahr im Anschluss an die wieder einmal verhauene Prüfung mit ihr über dieses Thema sprach. „Dass ich die Große Hexenmeisterin bin, spielt doch überhaupt keine Rolle.“ 
„Mum“, erwiderte ich seufzend. „Du bist so gut im Hexen, dass du von allen Hexen Großbritanniens dazu auserkoren wurdest, dem Hexenrat vorzustehen und sämtliche wichtigen Hexenentscheidungen zu treffen.“ 
„Als jüngste Kandidatin, die jemals zur Großen Hexenmeisterin erwählt wurde“, fügte Mum mit einem versonnenen Blick hinzu, bevor sie sich beim Anblick meines frustrierten Stirnrunzelns zusammenriss. „Nicht, dass das von Bedeutung wäre. Ist doch nur ein Titel, nichts weiter.“ 
„Trotzdem. Alle erwarten von mir, dass ich genauso glänzend bestehe wie du damals. Stattdessen bin ich als Hexe eine absolute Vollkatastrophe.“
„Nein, bist du nicht“, widersprach sie bestimmt. „Du bist eine großartige Hexe, du glaubst nur nicht genug an dich. Während der Prüfung bist du den aufmerksamen Blicken des Hexenrats ausgesetzt und lässt dich davon unter Druck setzen. Du gerätst in Panik und machst Fehler, genau wie unzählige großartige Hexen vor dir. Nächstes Jahr bestehst du mit Bravour, du wirst sehen.“
Nun, ein Jahr nach diesem Gespräch, hocke ich hier im Wald und warte darauf, dass mir endlich das Ergebnis einer Prüfung verkündet wird, die, seit ich denken kann, wie eine finstere Wolke über mir schwebt – und alle sind nur damit beschäftigt, über den Regen zu plaudern!
„Ich erinnere mich noch gut an das große Unwetter von 1859“, erklärt Sephys Mutter in düsterem Tonfall. „Ihr hättet sehen sollen, wie es damals stürmte! So etwas habe ich davor und danach nie wieder erlebt.“
„O ja, ich erinnere mich“, nickt eine ebenfalls betagte Hexe auf der anderen Seite des Sitzkreises. „Fast wäre mir der Schornstein vom Dach geweht.“
„MUM!“, übertöne ich verzweifelt das Stimmengewirr. „Bin ich wieder durchgefallen? Kannst du mich nicht endlich von meinem Elend erlösen? Es ist absolut okay, wenn ich auch diesmal nicht bestanden habe, ich komme damit klar.“
Schweigen senkt sich über die Runde herab. Mum holt tief Luft.
„Nein, Emma Charming“, sagt sie mit einem liebevollen Lächeln. „Du hast es geschafft. Du hast bestanden!“

Katy Birchall
Emma Charming

Nicht zaubern ist auch keine Lösung. Bd. 1.
Übersetzt von Verena Kilchling.
FISCHER KJB, 320 S., 15,– €, ab 10, 
ISBN 978-3-7373-4248-3