Nino Haratischwili: DAS ACHTE LEBEN (FÜR BRILKA)

Krieg und Schokolade

20. November 2014
Hundert Jahre Liebe und Gewalt: Eine opulente Familiensaga vor dem Hintergrund der georgischen Geschichte des 20. Jahrhunderts hat die junge Autorin Nino Haratischwili in diesem Herbst vorgelegt – und wird dafür bereits mit Größen wie García Márquez und Allende verglichen.

Mit ihren 31 Jahren könnte sich Nino Haratischwili als Autorin bereits zur Ruhe setzen. Schon jetzt ist ihr mehr gelungen als vielen Schriftstellern in einem ganzen Leben. Sie hat eine Reihe preisgekrönter Theaterstücke vorgelegt, ihr Debüt „Juja“ schaffte es auf die Longlist zum Deutschen Buchpreis und ihr zweiter Roman „Mein sanfter Zwilling“ wurde von der Kritik gefeiert. Sich selbst übertroffen hat die junge Autorin in diesem Jahr mit der knapp 1 300-seitigen Familiensaga „Das achte Leben (Für Brilka)“, die in den Feuilletons so breit und hymnisch besprochen wurde wie kaum ein anderes Werk in diesem Herbst. Selbst Vergleiche mit den ganz Großen der Literatur wurden nicht gescheut: Man fühlte sich erinnert an Tolstoi, an García Márquez und Isabel Allende.

Die Autorin lässt sich von so viel Lob nicht beeindrucken. Sie bleibt bescheiden und auf eine gelassene Art selbstbewusst, als würde sie sich von der Meinung anderer, ob gut oder schlecht, nicht allzu sehr beeinflussen lassen. Einen kleinen Roman hatte sie anfangs nur geplant und damals lediglich die Zeit der Pere­s­­troika in den Blick genommen, erklärt sie. Sie war selbst überrascht, wie daraus schließlich ein so monumentales Epos entstehen konnte, das am Beispiel einer Familie mit georgischen Wurzeln ein ganzes Jahrhundert und den halben Globus überblickt.

Schreiben, um zu verstehen
Überhaupt hatte die in Tbilissi (Tiflis) geborene Schriftstellerin lange gar nicht über ihr Heimatland Georgien schreiben wollen. Als gefragte Theaterautorin, die mit zwölf Jahren das erste Mal für zwei Jahre nach Deutschland kam, später in Hamburg Regie studierte und seither auf Deutsch schreibt, gab es so viel anderes, das sie literarisch mehr interessierte.
Vor ein paar Jahren begann sich das zu ändern: „In allererster Linie wollte ich mit meinem Roman verstehen, was es für Zusammenhänge sind, in die ich hineingeboren wurde, was es für Zeiten und Menschen waren, die das Land und so viele Leben geformt, so vielen Leid zugefügt haben. Dieses Verstehenwollen ging dem Schreiben voraus“, erklärt Haratischwili.

Um zu verstehen, hat die Autorin sich nicht mit Lesen begnügt. Sie hat mit Zeitzeugen gesprochen und ist durchs Land gereist. Herausgekommen ist ein Jahrhundertroman, der ab der ersten Seite Spannung entwickelt und in dem keine Zeile zu viel ist. Ein meisterhaftes Epos, das einen dichten Erzählteppich um sechs Generationen von starken Frauengestalten der Familie Jaschi webt und eine ungeheure Fülle an lebensprallen Geschichten erzählt. Beginnend mit der im Jahr 1900 geborenen, eigensinnigen Stasia, die gern im Herrenstil reitet und davon träumt, als Balletttänzerin nach Paris zu gehen, um dann doch einen Rotgardisten zu heiraten.

Von ihrem Vater hat sie das geheime Rezept für eine köstliche heiße Schokolade geerbt, die in dem Ruf steht, Unglück zu bringen. Und da ist ihre schöne Schwester, die sich unter Zwang mit dem Geheimdienstchef Beria einlässt und damit ihre Familie zerstört. Da ist Stasias Sohn Kostja, der die Freundschaft mit den Mächtigen sucht und im Sowjetstaat Karriere macht, während seine Schwester Kitty nach der Flucht in den Westen zur gefeierten Sängerin wird und dennoch todtraurig bleibt.

Die Erzählerin der Geschichte ist Stasias Urenkelin Niza. Ihrer zwölfjährigen Nichte Brilka will sie von den 100 Jahren und fünf Generationen berichten, die vor ihr ­waren. Von all dem Schrecken und den vergeblichen Versuchen ihrer Familie, dem Würgegriff der eigenen Zeit zu entkommen. Mit ­Brilka soll endlich ein neues Blatt aufgeschlagen werden. Sie soll wissen, woher sie stammt. Das verhängnisvolle Schweigen, das seit Generationen auf der Familie lastet und auf dem ganzen Land, soll ein für alle Mal gebrochen werden. Konsequent bleibt die letzte und Brilka gewidmete Seite des Buchs frei. Ein leeres Blatt der Hoffnung, dass nach den Jahren von Sowjetterror und Bürgerkrieg in dem kleinen von der Natur begünstigten Land, das als die Côte d’Azur der Sow­jetunion galt, auf einmal wieder vieles möglich ist.