Gemischte Meinung - Şeyda Kurt

Die neue Offenheit?

16. Juni 2023

Gemischte Meinung – das neue Format im Buchjournal: Hier schreiben im Wechsel drei Kolumnist:innen über Themen, die aus ihrer Sicht die Gesellschaft, die Welt der Bücher oder beides bewegen. Dieses Mal meldet sich die Autorin Şeyda Kurt zu Wort.  

E s war meine erste Buchmesse, ich eilte in Leipzig von einem Termin zum nächsten. Ich erwartete, dass auch das Publikum in Eile sein würde. Doch die Menschen blieben stehen, sie hörten zu. Gerade das Forum Offene ­Gesellschaft, das neue Diskussionsformat der Messe, fand ­offenbar Anklang. In einstündigen Slots diskutierten Autor:innen hier gesellschaftliche Themen rund um Vielfalt und Menschenrechte. Auch ich war an ­einem Vormittag eingeladen, es ging um die AfD und den neuen Nationalismus. 

Der Tenor war: Die offene Gesellschaft wehrt sich ­gegen rechts und anti-liberale Kräfte. Und das Forum ­Offene Gesellschaft repräsentiert diese Geschlossenheit. Doch zugleich spürte ich die anhaltende Ratlosigkeit im Umgang mit dem neuen Faschismus. In einem ARD-Beitrag über das Forum Offene Gesellschaft gab Harald Welzer hingegen Entwarnung: Deutschland sei ja immer noch eine offene Demokratie. 

Offene Demokratie, offenes Forum – mein Unbehagen mit dem Begriff „offen“ sitzt nach der Messe tiefer. Offen für wen? Wofür? Als Autor:in, die sich mit sozia­ler Ungerechtigkeit, mit Rassismus, Anti-Feminismus und Polizeigewalt beschäftigt, weiß ich, für wen die ­offe­ne Gesellschaft tatsächlich offensteht – und wer etwa vor verschlossenen Außengrenzen ausharren muss. 

„Es ist die Funktionsweise der liberalen repräsentativen Demokratie selbst, die auch für anti-liberale Kräfte die Möglichkeit birgt, durch Wahlen in Par­lamente und an die Regierung zu kommen“, schreibt die Philosophin Isabell Lorey in „Demokratie im ­Präsens“. Autoritäre Kräfte würden auf den Ungleichheiten und Herrschaftsmustern liberaler Demokratien aufbauen, die in sich zutiefst undemokratisch seien: geschlechtliche, rechtliche, besitz- und bildungsbedingte Ungleichheiten sowie Rassismus. Wie demokratisch ist eine Demokratie, wenn sich politische Mitbestimmung auf den Gang zur Wahlurne alle vier Jahre ­beschränkt? Wie repräsentativ kann eine ­De­mokratie sein, in der rund zehn Millionen Menschen ohne deutschen Pass nicht wählen ­dürfen? 

Oliver Zille, Direktor der Leipziger Buch­messe, hatte sich in einem Interview das Forum ­Offene Gesellschaft als einen richtunggebenden Ort für neue Sichtweisen auf Gesellschaft gewünscht. Doch um Impulse für grundlegende Fragen zu setzen, braucht es wahrscheinlich nicht nur mehr Zeit, sondern auch mehr Offenheit zum interessierten Publikum, das diesmal nicht mitdiskutieren durfte. Dabei hat es sicherlich einiges beizutragen. Ganz ohne Eile.