GESCHICHTE

Der Sturz ins Bodenlose

9. März 2023

Die Besetzung des Rheinlands, ein Putsch­versuch der Rechtsnationalen und eine ­Inflation, die breite Bevölkerungsgruppen ins Elend stürzt: 1923 blickt die noch junge Weimarer Republik in den Abgrund. Ein historischer Exkurs zu ­einem Schicksalsjahr, das bis heute politisch und ­gesellschaftlich nachhallt. 

E s ist eine Zeit der Krisen, der komprimierten Geschichte, in der sich die abgründige Vergangenheit und Zukunft Deutschlands begegnen: das Jahr 1923. Als am 11. Januar französische und belgische Soldaten das Ruhrgebiet besetzen, kehrt unvermittelt ein Gefühl von Krieg nach Deutschland zurück. Und als am 9. November Putschisten der NSDAP unter Adolf Hitler und General Ludendorff zur Münchner Feldherrenhalle marschieren und damit den Sturm auf die Republik proben, erhalten die Menschen ­einen Vorgeschmack auf das Ende der Weimarer Republik eine Dekade später. Schließlich wird im Lauf des Jahres 1923 die Geldentwertung zur Hyperinflation und verwandelt Milliarden und Billionen von Mark in wertloses Altpapier, stürzt viele Menschen ins Elend. Die Ursache: der Versuch, unbezahlte und unbezahlbare Kriegs­reparationen, deren Ausbleiben Anlass zur Ruhrbesetzung war, mittels der Notenpresse zu begleichen.
Auch wenn der Münchner Putsch im Kugelhagel endet, lenken Besetzung und ­Inflation Wasser auf die Mühlen nationalistischer Verschwörungstheorien und Rache­gelüste. Ausschreitungen der Besatzer wie der „Essener Blutsamstag“ nähren den Hass auf Franzosen und „Vaterlandsverräter“. Eine Protestnote der Deutschen Regierung klagt an: „Am 31. März hat ein in die Kruppschen Werke in Essen eingedrungenes französisches Kommando, ohne angegriffen oder auch nur bedroht zu sein, in eine Menge friedlich demonstrierender Arbeiter hineingeschossen und ein entsetzliches Blutbad angerichtet.“ 
 

Doch die Ruhrbesatzung bringt nicht allein fremde Soldaten in den Kohlenpott, sondern auch das Geschäft mit Baguettes und einen amerikanischen Kriegsreporter namens ­Ernest Hemingway. Der hat 1923 im gar nicht mehr so fernen Paris schon einen Brückenkopf der angloamerikanischen „Lost Generation“ gebildet. Der Verfall der europäischen Währungen gegenüber dem Dollar, der den Deutschen ein Trauma fürs Leben zufügt, wird US-Schriftstellern wie ­Hemingway und F. Scott Fitzgerald in Paris und an der französischen Mittelmeerküste bald „Ein Fest fürs Leben“ bescheren. Im Jahr 1923 aber ist Hemingway dem deutschen Publikum so wenig bekannt wie der junge chinesische KP-Funktionär Mao Zedong, der im selben Jahr nach Schanghai entsandt wird.
Für die meisten Deutschen spielen sich die großen Krisen jenseits ihres Wahrnehmungshorizonts ab. Heinrich Mann sagt in einer Rede, der Reichstag habe sich in ein „Haus der Gespenster“ verwandelt, „wie es kein Dichter, kein Theater ­zeigen kann“. Und die Tagebücher des Dresdner Romanisten Viktor Klemperer werden zur Chronik eines deutschen Alltags, der von Geldsorgen geprägt ist und von der Sehnsucht, sich von einer Wirklichkeit abzulenken, die immer unwirklicher wird. 
Die absurd steigenden Preise stellen Klemperers ­bürgerliche Gepflogenheiten, wie die Rasur beim ­Barbier, auf den Prüfstand: „Die Not hat mir bei­gebracht, was ich seit vielen Jahren mehrfach vergeblich versuchte. Ich rasiere mich jetzt selber mit dem Gilette-Apparat“, schreibt er. Während viele Menschen hungern oder – durch trügerisch gestiegene Immobilienpreise zum Verkauf verlockt – buchstäblich Haus und Hof verlieren, nehmen die „Roaring Twenties“ für andere nun buchstäblich Fahrt auf. Mit Ledermänteln, Kappen und auf­geschnürten „Autobrillen“ gewappnet, folgen die Klemperers der Einladung zu einer Landpartie. Bald rast das offene „Reiseautomobil“ mit 40 km / h dahin, bei 50 stellt sich „ein eigentümlich surrendes Schnelligkeitsgefühl“ ein, und ein paarmal beschleunigt das Wunderwerk der Technik gar auf atemberaubende 60 km / h.
 

Die Geburt des Radios

Alles beschleunigt sich, alles wird unwirklicher, und wenn man für einen Brathering 75 000 Mark bezahlt, kann man auch 50 000 und bald Millionen für eine Kinokarte ausgeben. Immer öfter ­suchen Klemperer und seine Frau Eva so Zuflucht: „Ich hatte wieder das wehmütige Gefühl, im Kino Ersatz für alle früheren Emotionen zu finden. Reisen, Theater, Kaffeehaus – alles ist hin, nur das Kino ist geblieben.“
Dieser Lebensersatz steigert die allgemeine Hektik – nicht zuletzt, weil skrupellose Kinobetreiber die Filme schneller laufen lassen, um mehr Vorstellungen ansetzen zu können. Der frühe Film lebt von Übertreibung, doch 1923 ist er noch stumm. So sehr Klemperer die Leistungen von Stummfilmstars wie der Dänin Asta Nielsen in dem Filmdrama „Der Absturz“ schätzt, so sieht er doch, dass deren Mimik, die ­diese Sprachlosigkeit überspielte, forciert ist. 
Die Einführung des Tonfilms sollten viele Stummfilmstars und auch die Nielsen schließlich nicht überstehen. Klemperer zeigt sich indes von sogenannten Pinschewerfilmen angetan. Julius Pinschewer (1883 – 1961) war ein deutscher Pionier des Zeichentrickfilms, der im Schatten seiner amerikanischen Konkurrenz verschwinden sollte. Im Jahr 1923 gründen die Brüder Walt und Roy Disney in den USA ihr Disney Brothers Cartoon Studio, das den überzeichnet grimassierenden menschlichen Mimen die Konkurrenz von Mäusen und Enten beschert. 

Während die Zeitungsmeldungen immer dramatischer und die Zahlen auf Geldscheinen und Briefmarken immer größer werden, wandelt sich die Wahrnehmung: Das gedruckte Wort, das als Untertitel noch die frühen Filme begleitet, bekommt akustische, livehaftige Konkurrenz durch das ­Radio. So meldet der Berliner Zigarrenhändler Wilhelm Kollhoff im Oktober 1923 als erster Gebührenzahler sein Radio ein und zahlt dafür 350 Milliarden Mark. Sein Laden in Wilmersdorf soll noch 1953 existiert haben. Man mag sich den als Insel der Ruhe und Beständigkeit in stürmischen Zeiten vorzustellen – und seinen Besitzer als einen glücklichen und nach der Währungs­reform auch einen der wenigen Menschen auf dieser Welt, die sich jemals über gesunkene Rundfunkgebühren haben freuen können.

Ulrich Baron