KOLUMNE

Die anderen Leben

20. Dezember 2023

Christine Westermann empfiehlt Lektüre abseits der aktuellen Bestsellerlisten. Lektüre, die auch das Wiederlesen lohnt. Dieses Mal: „Von Teufeln und Heiligen“ und „Der Junge, der zu viel fühlte“.

"Lieblingsbuch der französischen Buchhändler:innen“ steht im Klappentext. Für mich ein Gütesiegel, denn sie sind überall auf der Welt die Trüffelschweine des Literaturbetriebs. Spüren jene Bücher auf, die sonst kaum entdeckt werden. Im Mittelpunkt des ­Romans „Von Teufeln und Heiligen“ (btb, 304 S., 12,– €) steht ein Mann, der in ­Pariser Bahnhöfen Klavier spielt. Nicht für Geld; er wartet auf eine Frau, schon sein halbes Leben lang. Doch warum spielt er immer nur Beethoven? 
Die Geschichte führt viele Jahre zurück, in ein Waisenhaus nahe der Pyrenäen. Geführt von bigotten Priestern, die den Kindern das Leben zur Hölle machen. Bis ein Mädchen namens Rose auftaucht. Mehr will ich nicht preisgeben, denn dieses Buch hat seinen eigenen zarten Zauber. Der umso erstaunlicher ist, als es derart teuflisch böse und emotional brutal zugeht, dass man Mühe hat, die Fassung zu bewahren. Wohl auch deshalb, weil die Geschichte so nah dran am richtigen Leben zu sein scheint. An all dem, was man erfahren hat über die katholische Kirche, ihre Priester, den Missbrauch von Kindern, die man ihnen anvertraute. Die später seelisch schwer verletzt ins Leben gehen. Verletzt von Teufeln, die sich als Heilige gebärden und von Engeln reden.

Jean-Baptiste Andreas Roman strahlt eine unglaubliche Kraft aus – und genau das tut auch die ­Vater-Sohn-Geschichte „Der Junge, der zu viel ­fühlte“ (Lübbe, 224 S., 12,– €). Auf dem Umschlag ein Foto, Mann und Kind am Meer, beide lächeln scheu, der Kleine hängt irgendwie schief im Arm des Vaters. Vielleicht hat der Vater ihn gebeten, still zu stehen. Schwer für einen autistischen Jungen wie Kai, denn das Meer, die Sonne, das Glitzern der Wellen, zu viel für seine Sinne. Kais Vater ahnt das, denn Henry Markram ist ­einer der berühmtesten Hirnforscher der Welt. Sein Sohn Kai zeigt ihm täglich, wie weit sich die Wissenschaft vom richtigen Leben entfernt hat. Wie Kai die Forschungsergebnisse des Vaters über den Haufen wirft, ihn zwingt, neu zu denken. Hochemotional erzählt, aber mit leichter Hand geschrieben. 
Der Autor dieser ungemein spannenden Vater-Sohn-Geschichte ist der Journalist Lorenz Wagner, er hat die beiden über Monate begleitet. Sie erschien zuerst im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ und hat die Leser so bewegt wie keine andere Geschichte. Wenn man das Buch liest, weiß man, warum. Ein Buch, mit dem man die Welt anders sieht. Mit den Augen eines Autisten. •

Über die Kolumnistin

Christine Westermann, Autorin und Journalistin, arbeitet seit vielen Jahren für Funk und Fernsehen; sie moderierte mit Götz Alsmann „Zimmer frei“ und war Mitglied beim „Literarischen Quartett“. Seit diesem Jahr podcastet sie auch: mit WDR-Moderatorin Mona Ameziane in dem generationenübergreifenden Format „Zwei Seiten“.