Charlotte McConaghy: ZUGVÖGEL

Der letzte Wandervogel

28. August 2020

Frei wie Seeschwalben um die halbe Welt fliegen, immer in Richtung Wärme und Licht: In Charlotte McConaghys Roman „Zugvögel“ wird dieser Traum für eine junge Frau zu einer langen, gefährlichen Reise zu sich selbst. 

Der Bildschirm meines Notebooks zeigt drei kleine rote Punkte. Und sie ziehen gen Süden. „Denen folgen wir jetzt also?“, fragt Mal. Ich nicke.

Aus: „Zugvögel“

Alle wilden Tiere sind ausgestorben, nur Haus- und Zootiere haben Umweltzerstörung und Klimawandel überlebt. Franny Stone leidet mehr als andere darunter, hat sie doch selbst schon Verluste, Abschiede und Katastrophen erlebt. Die junge Frau ist eine Art Wandervogel, und so will sie jetzt auch die letzten Küstenseeschwalben auf ihrem langen Flug von Grönland in die Antarktis begleiten. Und was sich Franny in den Kopf setzt, zieht sie mit ihrer Wildheit und ihrem „entsetzlichen Willen“ auch durch. Getrieben von Ängsten, Albträumen und den dunklen Geheimnissen aus ihrer Vergangenheit, treibt die Schlafwandlerin die Besatzung des Fischkutters Saghani, eine bunte Crew raubeiniger Exzentriker und Träumer, immer weiter voran. Die Männer hoffen auf reichen Fang, Franny auf so etwas wie Erlösung. 

Franny ist eine unvergessliche Figur: mutig und ungestüm, neugierig und ­fantasievoll, genau wie ihre Mutter, die Franny verließ, als sie noch ein Kind war. In den Armen des Ornithologen Niall findet sie Geborgenheit, aber Niall ist ein nüchterner Wissenschaftler und Franny ein vogelwildes Geschöpf mit beschädigten Schwingen. 

Charlotte McConaghy, wie ihre Heldin eine Grenzgängerin zwischen Irland und Australien, wagt sich mit ihrem ersten literarischen Roman an die großen Probleme unserer Zeit. „Zugvögel“ ist eine spannend erzählte, gefahrvolle Reise um die halbe Welt, zugleich Abenteuer- und Liebesroman, Ökoparabel, Mutter- und ­Vatersuche, manchmal traurig und düster, aber immer eine Ode an die Kraft und Schönheit des ungezähmten Lebens. 

Die Sprache ist rau und emotional, die klaustrophobe Atmosphäre an Bord intensiv. Franny kennt und mag Dichter wie Keats oder auch Margaret Atwood, aber sie ist und bleibt eine elementare Naturgewalt, aufgewühlt schäumend und dann wieder friedlich leuchtend wie ihr geliebtes Meer. Fanny folgt unbeirrt den Peilsendern ihrer Vögel und dem Kompass ihres Herzens, und so führt ihre lange Reise zu sich selbst am Ende auch ans Ziel. 

Tilman Rather

Charlotte McConaghy
Zugvögel

Übersetzt von Tanja Handels. 
S. Fischer, 
400 S., 22,– €, 
ISBN 978-3-10-397470-6

Über die Autorin

Charlotte McConaghy, geboren 1988, hat irische Wurzeln und wuchs in Australien auf. Ihre Liebe zur Natur und ihre Erschütterung über die Auswirkungen des Klimawandels inspirierten sie zu „Zugvögel“, ihrem literarischen  Debütroman, mit dem ihr der internationale Durchbruch gelang. Sie hat einen Abschluss als Drehbuchautorin der Australian Film Television and Radio School.  McConaghy lebt in Sydney.