Julia Phillips: DAS VERSCHWINDEN DER ERDE

Dunkle Schatten über Kamtschatka

4. März 2021

Auf der russischen Halbinsel Kamtschatka verschwinden zwei Mädchen spurlos. Um diesen Fall entspinnt Autorin Julia Phillips einen vielstimmigen literarischen Krimi, der das Thema Gewalt gegen Frauen in den Mittelpunkt rückt. 

An einem Sommertag vertreiben sich die elfjährige Aljona und ihre drei Jahre jüngere Schwester Sofija die Zeit am Strand von Petropawlowsk, der Hauptstadt von Kamtschatka. Ein fremder Mann bittet die beiden um Hilfe und lockt sie anschließend in sein Auto. Die Mädchen verschwinden spurlos. So mysteriös und aufwühlend beginnt Julia Phillips’ Roman „Das Verschwinden der Erde“.

Doch was, so fragen sich die Leute in Kamtschatka, ist geschehen? Eine Zeugin glaubt, einen Mann in einem gepflegten Auto gesehen zu haben; doch eine Suchaktion bleibt erfolglos. Werden die Kinder ­irgendwo festgehalten oder sind ihre Leichen längst unauffindbar vergraben? Sind sie am Ende doch beim Spielen im Meer ertrunken? Und hat der Fall vielleicht etwas mit Lilja zu tun, dem Mädchen, das seit drei Jahren vermisst wird?

Freundschaften und tiefe Konflikte
Das Leben in der dünn besiedelten Region geht weiter, doch die Ungewissheit über das Schicksal der Kinder liegt wie ein dunkler Schatten über den Menschen im wilden Osten Russlands. In jedem Kapitel des Romans stehen andere Personen im Mittelpunkt, doch stets sind es Frauen, aus deren Perspektive erzählt wird. So erscheint nicht nur das rätselhafte Verschwinden immer wieder in ­einem anderen Licht, es entsteht auch ein Bild der ethnischen und kulturellen Konflikte in Kamtschatka zwischen „weißen“ Russen und der indigenen Bevölkerung. Es geht um Gewalt und Vorurteile, um Außenseiter und um kleine und große Tragödien. Der Roman erzählt aber auch von Liebe, Freundschaften und dem Zusammenhalt in einer Welt, die von der sowjetischen Vergangenheit ebenso geprägt ist wie von spektakulärer Natur und Landschaft.

Sie saßen in seinem Wagen. Sie waren irgendwohin unterwegs. Bald wären sie wieder zu Hause. Sie musste stark sein für Sofija.

Aus: "Das Verschwinden der Erde"

„Ich habe ‚Das Verschwinden der Erde‘ geschrieben, um Gewalt gegen Frauen in unterschiedlichen Facetten in der heutigen Welt darzustellen“, sagte Julia Phillips in einem Interview. Es sei erstaunlich, „wie sehr sich die Verletzungen ähneln, überlagern und uns verbinden“. 2011 lebte die Autorin in Kamtschatka und begann nach ihrer Rückkehr in die USA mit dem Schreiben. Ihr Debütroman ist ein vielstimmiger literarischer Krimi mit einem überraschenden Ende – und nicht wenige werden mit dem Lesen gleich noch mal von vorn anfangen.

Wolf Beetz

Julia Phillips
Das Verschwinden der Erde

Übersetzt von Pociao und Roberto de Hollanda. 
dtv, 376 S., 22,– €, 
ISBN 978-3-423-28258-1

Über die Autorin

Julia Phillips, geboren 1988, hat Russisch, Literatur und Geschichte studiert. Ihre Erzählungen und Artikel wurden in zahlreichen ­Zeitschriften und Magazinen ­veröffentlicht. „Das Verschwinden der Erde“ ist ihr erster Roman; er stand auf der Shortlist des National Book Award 2019 und erscheint in 25 Ländern. Julia Phillips lebt in Brooklyn, New York. 
Mehr zur Autorin unter www.dtv.de/julia-phillips